Es gibt keine Einschränkungen mehr, der Unterricht und die außerschulischen Aktivitäten finden wie gewohnt statt – nach der Pandemie ist fast schon wieder Normalität eingetreten. Die meisten Menschen fanden zurück in ihr „altes“ Leben, doch nicht alle. Stephan Heesen trifft vor allem auf Jugendliche, die mit diesem Schritt zurück in die Normalität Probleme haben.
„Ängste, Depressionen, Essstörungen und psychosomatische Erkrankungen haben zugenommen“, fasste es der Diplomsozialpädagoge und Stellenleiter der ökumenischen psychologischen Beratungsstelle in Ebingen noch in seinem Bericht zum Jahr 2021 zusammen. „In diesem Berichtsjahr haben wir festgestellt, dass von den Kindern und Jugendlichen, die zu uns kommen, 40 Prozent mehr über Ängste, depressive Verstimmung und mangelnden Selbstwert klagen als noch im Jahr 2020.“ Derzeit arbeitet er am Bericht für 2022, und schon jetzt kann er sagen: „Es bleibt auf einem hohen Niveau.“ 2022 gebe es zudem Rekordzahlen bei der Erziehungsberatung und den allgemeinen Fallzahlen.
Depressive Verstimmung bei Kindern und Jugendlichen
Diese depressive Verstimmung und Zukunftsängste, die in der Gesellschaft zunehmen, seien nicht allein Folge der Pandemie, sondern auch des Krieges in der Ukraine, so Heesen. „Wie geht es mit dem Krieg weiter? Wie geht es mit der Energiekrise weiter? Mit der Inflation? Das belastet die Gesellschaft, die Eltern und letztendlich auch die Kinder und Jugendlichen.“ Sie sind auf Erwachsene angewiesen und merken deutlich, wenn diese mit Ängsten und Problemen belastet sind. „Die Nerven liegen blank und es gibt mehr Streit in den Familien.“ Er habe dabei den Eindruck, dass die Menge der Probleme zunimmt. Gab es früher einzelne Probleme, mit denen die Klienten zur Beratungsstelle kommen, sind es mittlerweile gleich mehrere.
Das zeigt sich allerdings auch in der Auslastung der Beratungsstelle. Derzeit gibt es Wartezeiten von bis zu zwei Monaten. Das ist jedoch eine Entwicklung, die es im medizinischen Bereich schon seit vielen Jahren gibt: Der Bedarf an Psychotherapeuten in Deutschland wurde 1999 mit dem Psychotherapeutengesetz festgelegt. Schon damals gab es eine Unterversorgung, die Zahlen sind längst überholt. Zwar wurden 2019 rund 800 neue Kassensitze geschaffen. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, sagt gegenüber des ZDF aber, dass es mindestens dreimal so viele brauche.
Lange Wartezeiten bei Psychologen
Die Folge: lange Wartezeiten, nicht nur bei Therapeuten mit Kassenzulage. Zudem kann sich nicht jeder eine Therapie bei Therapeuten ohne Kassenzulage leisten, denn die muss (meist) selbst bezahlt werden.
Eigentlich sind es Angebote wie die der psychologischen Beratungsstelle, die diese Diskrepanz auffangen sollte. Sie kann es aber nicht mehr, sagt Heesen. In der Bahnhofstraße soll eigentlich allen Menschen geholfen werden, unabhängig der Nationalität, der Religionszugehörigkeit, der Weltanschauung und auch des Geldbeutels. Denn in vielen Fällen (Erziehungsberatung und Beratung von Kindern und Jugendlichen) kann die Beratung kostenlos angeboten werden, weil die Beratungsstelle vom evangelischen Kirchenbezirk Balingen und der Diözese Rottenburg-Stuttgart getragen wird sowie von der Stadt Albstadt, dem Zollernalbkreis und dem eigenen Förderkreis unterstützt wird. Die Stadt Albstadt beispielsweise zahlt seit Einzug in die Bahnhofstraße die Miete für die Räumlichkeiten.
Neue Stelle für Beratungsstelle geschaffen
Dank solcher Unterstützung ist es möglich, dass Mitte Mai eine neue Mitarbeiterin anfängt, die das vierköpfige Team unterstützen wird. „Wir haben ein Vermächtnis bekommen von einem Menschen, der uns in seinem Testament bedacht hat.“ Dadurch kann vorübergehend eine Aufstockung der Beratungskapazität um 50 Prozent erfolgen, bis mit Eintritt in den Ruhestand einer Beratungsperson in wenigen Jahren diese Erhöhung aufgrund der begrenzten Mittel wieder zurückgefahren werden muss.
Hinzukommt eine weitere Stelle: Die Diözese Rottenburg-Stuttgart übernimmt die Verantwortung und fühlt sich in der Pflicht, sich dem Unrecht im Bereich sexualisierte Gewalt, das manche Vertreter der Diözese Menschen angetan haben, zu stellen, so Heesen. Deswegen wird vermutlich noch dieses Jahr eine 60-Prozent-Stelle für die Albstädter Beratungsstelle geschaffen, die sich um Prävention von sexualisierter Gewalt und männliche Betroffene kümmern soll. Das sei auch mit dem Verein Feuervogel Zollernalbkreis abgestimmt.
Denn leider geht es in der Beratungsstelle nicht nur um Beziehungsprobleme, um Angst vor der Schule oder der Zukunft, sondern auch um Suizid, sexualisierte Gewalt und Kindeswohlgefährdung. Das seien Fälle, die auch einen erfahrenen Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberater nicht kaltlassen. „Deshalb ist mir der gesunde Ausgleich zu meiner Arbeit so wichtig: Ich wandere gerne, singe im Chor, bin in der evangelischen Kirche aktiv, habe viele Kinder und Enkel und eine tolle Frau, die mich sehr unterstützt.“ Sich immer wieder mit den schönen Dingen des Lebens zu beschäftigen, das helfe ihm, mit massiven Schicksalen zurechtzukommen. Zudem gibt es für alle Berater regelmäßige Inter- und Supervisionen.
Wieder Mut fassen
„Was uns Mut macht und Ansporn ist, dass unsere Beratungen hilfreich sein können, sodass Menschen wieder Mut fassen, wieder Hoffnung schöpfen und sie erkennen, dass sie ihre Zukunft selbst beeinflussen können“, erklärt der Stellenleiter die Funktion der Beratungsstelle. „Viele Menschen bezeichnen uns als Anker, weil wir ein Stützpunkt sind. Hier können Sorgen, Ängste und Nöte besprochen werden und sie werden verstanden.“ Er finde es ein Geschenk, dass Ratsuchende sich hier verletzlich zeigen können und ihnen meist geholfen werden kann, findet der 58-Jährige.
„Ich sage ganz oft: Seien Sie gnädig mit sich“, so Stephan Heesens Rat an seine Klienten. Sie werden in der Albstädter Beratungsstelle Klienten genannt, weil der Begriff Patient suggeriert, dass sie krank sind. Das möchten Heesen und sein Team nicht.
„Das Bauchgefühl trifft die besten Entscheidungen“
Ein weiterer Tipp, den er nicht nur den Klienten geben kann, ist auf sich selbst, auf die innere Stimme, zu hören. „Wenn Sie tief in sich kehren und sich spüren, mit all Ihren Werten, Maßstäben und Vorstellen, die Sie für richtig erachten, was würden Sie dann tun?“ Das könne Heesen aber nicht zu jedem Menschen sagen. „Es gibt auch Menschen, die sind aufgrund ihrer frühen Kindheit so geschädigt, dass sie so wenig innere Orientierung haben, dass sie schlecht spüren, was sie selber wollen.“ Der Grund dafür muss jedoch nicht mal dramatische Erlebnisse sein, in unserer Gesellschaft gibt es so viele Ablenkungen, so viele Entscheidungsträger, äußere Einflüsse, dass das eigene Bauchgefühl häufig übertönt wird. „Wir wissen, dass das Bauchgefühl die beste Entscheidung trifft. Dort laufen neuronale Netzwerke zusammen und dort ist unser Verstand verortet.“
Manchmal kann auch helfen, sich einen eigenen „inneren sicheren Ort“ zu erschaffen, etwa wenn Angst oder bedrohliche Gefühle überhandzunehmen drohen. In der eigenen Vorstellung wird ein Wohlfühlort geschaffen und zudem ein sogenannter Anker. Mithilfe einer Geste wird der innere Ort verankert und die Person gelangt bei ausreichender Übung zum Wohlfühlort. Was abstrakt klingt, kann helfen, in stressigen und beängstigenden Situationen zur Ruhe zu kommen.
Info Die ökumenische psychologische Beratungsstelle in der Bahnhofstraße 26 in Ebingen bietet ein möglich niederschwelliges Angebot an. Eine Überweisung eines Arztes ist nicht notwendig. Dafür werden allerdings auch keine Atteste ausgestellt oder Medikamente verschrieben. Wer Bedarf an einer Beratung oder einem Gespräch hat, kann persönlich vorbeikommen, telefonisch anfragen oder per E-Mail eine Anfrage stellen. Diese muss aus Datenschutzgründen telefonisch bestätigt werden. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern zur Beratung kommen dürfen.
www.beratungsstelle-albstadt.de
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