Die Forderung nach Abschaffung des Hartz-IV-Systems war lange Zeit vor allem der Linkspartei vorbehalten. Doch inzwischen ist geradezu ein Ideen-Wettbewerb um die Grundsicherung entbrannt. Die Grünen sind mit einer „Garantiesicherung“ vorgeprescht und haben damit auch die SPD unter Zugzwang gesetzt – beide Parteien waren einst Wegbereiter der Hartz-Reformen. Motive für die Debatte gibt es viele: Die Digitalisierung der Arbeit verlangt neue Ansätze. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft und die Armutsrisiken bestimmter Gruppen heizen die Diskussion zusätzlich an.   Und die verstärkte Konkurrenz der Parteien um Wechselwähler spielt ebenfalls  eine Rolle. Hat das Prinzip „Fördern und Fordern“ also ausgedient?
2005 wurde unter Rot-Grün die Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe zusammengelegt, es entstand das Arbeitslosengeld II (Hartz IV).  Über allem schwebte das Ziel, Hilfsempfänger nicht nur zu alimentieren, sondern ihnen einen Job zu verschaffen, notfalls auch mit Zwang. An sich gilt die Reform als erfolgreich, Experten weisen immer wieder darauf hin, dass die derzeit niedrige Arbeitslosigkeit nicht allein an der guten Konjunktur liegt, sondern auch an den Hartz-Reformen.
Dennoch hat Hartz IV einen schlechten Ruf: Die Sanktionen, die bei Pflichtverstößen verhängt werden, sind in vielen Augen ungerecht. Zudem drücken die Kürzungen, die bei unter 25-Jährigen besonders hoch sind, manche Bedürftige unter das Existenzminimum. Im Juli 2018 summierte sich die Zahl der Betroffenen mit mindestens einer Sanktion auf 131 000. Die durchschnittliche Kürzung lag laut Bundesagentur für Arbeit bei 110 Euro.  Hinzu kommt der bürokratische Aufwand: Gerichtsurteile machen das System immer noch komplexer. Und der Hartz-IV-Regelsatz – derzeit 416 Euro – gilt vielen als zu niedrig.
Die jüngste Debatte wurde von Grünen-Chef Robert Habeck angestoßen: In einem Papier für das neue Grundsatzprogramm seiner Partei fordert er, den Zwang zur Arbeitsaufnahme mitsamt den Sanktionen abzuschaffen und stattdessen durch mehr Zuverdienstmöglichkeiten positive Anreize zu setzen. Basisleistung wäre eine bedingungslose „Garantiesicherung“, die über den heutigen Hartz-Sätzen liegt. Sie ist aber nur für Bedürftige gedacht, also kein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) für alle.  Das „Schonvermögen“, das nicht angerechnet wird, soll auf 100 000 Euro angehoben werden – was allerdings zu mehr Anspruchsberechtigten führen würde. Ganz neu ist das alles nicht: Die Abschaffung der Sanktionen ist seit dem Grünen-Bundesparteitag 2016 in Münster Beschlusslage. Und die Grundsicherung wurde schon im Frühjahr in einem Papier von Fraktionschef Anton Hofreiter und dem Abgeordneten Sven Lehmann formuliert.
SPD-Chefin Andrea Nahles musste reagieren, um den Grünen nicht das Feld zu überlassen. Sie forderte in der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ grundlegende Änderungen. „Wir müssen diese Reform aus der Perspektive derer machen, die den Sozialstaat brauchen, nicht aus der Perspektive derer, die ihn missbrauchen“, schrieb Nahles. Ihre Vorschläge: ein „Bürgergeld“ mit teils höheren Leistungen, etwa für Anschaffungen wie Kühlschrank oder Winterjacke, ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung, der längere Verbleib in der Arbeitslosenversicherung, höhere Schonvermögen, wobei selbstgenutztes Wohneigentum außen vor bleiben soll. Bisher gilt dies nur für Wohnungen in „angemessener Größe“ – maximal 90 Quadratmeter für zwei Erwachsene.
Anders als Habeck will Nahles die Sanktionen nicht abschaffen, sondern sie als „letztes Mittel“ behalten. Unter dem Strich will sie vor allem erreichen, dass weniger Menschen in Hartz IV landen, und dabei dem ungeliebten SPD-Kind auch gleich einen neuen Namen geben. Ein Systembruch wäre das nicht.
Umsetzen lassen sich die Ideen vorerst nicht. Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Gesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) wollen an Hartz IV und dem Prinzip „Fördern und Fordern“ festhalten. Auch in der Opposition finden sich derzeit kaum Mitspieler. FDP-Chef Christian Lindner etwa nannte Habecks „Garantiesicherung“ ein „Verarmungsprogramm“. Und der baden-württembergische FDP-Bundestagsabgeordnete Michael Theurer sagte gestern im Deutschlandfunk, dass er es für zumutbar halte, wenn ein Arbeitsloser von Berlin oder dem Ruhrgebiet „auf die Ostalb umzieht“, wo Vollbeschäftigung herrsche. Zwar fordert auch die FDP ein „Bürgergeld“, meint damit aber nur, dass alle Sozialleistungen gebündelt werden sollen.
Im Bundestag gab es übrigens bereits Versuche, die Sanktionen abzuschaffen oder zu entschärfen. Erst im Juni sprachen sich Sachverständige im Ausschuss für Arbeit und Soziales mehrheitlich gegen das Strafsystem aus. Doch im Plenum scheiterten anschließend Anträge von Grünen und Linken, dieser Empfehlung zu folgen: Kein einziger Abgeordneter von CDU, CSU, SPD, FDP und AfD stimmte damals zu.

Sanktionen: Jüngere verlieren 28 Prozent