Kennen Sie die Namen der Oberbürgermeister von Freiburg, Reutlingen oder Ludwigsburg? Diese Städte - und acht weitere in Baden-Württemberg - haben mehr Einwohner als Tübingen. Und doch hat es Boris Palmer geschafft, sich bundesweit einen Namen zu machen. Weniger als Rathauschef der zwölftgrößten Stadt im Südwesten - eher als Grünen-Politiker mit Ansichten, die oft nicht zum Kurs der Parteimehrheit passten. Immer für eine kontroverse Aussage gut, wurde er zum beliebten Interviewpartner, zum oft geladenen Talkshowgast.
Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Palmer als Partei-„Rebell“ bei den Grünen erhalten habe, sei größer gewesen als die öffentliche Aufmerksamkeit für seine Arbeit als Rathauschef, sagt der Experte für politische Kommunikation, Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim in Stuttgart. Dabei - so sehen es viele - hat der 50-Jährige sich als Oberbürgermeister große Verdienste erworben.
Einst Zukunftshoffnung der Grünen scheiterte Palmer 2004 noch bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl. Zwei Jahre später erreichte er im Alter von 34 Jahren in Tübingen die absolute Mehrheit. Nach Angaben der Stadt gelang es damals erstmals einem Kandidaten der Grünen, eine OB-Wahl im ersten Durchgang für sich zu entscheiden.
Motto von OB Boris Palmer: „Tübingen macht blau“
Vor gut einem halben Jahr erst wählte ihn eine Mehrheit in Tübingen zum dritten Mal zu ihrem Rathauschef. Da waren die Debatte um seine Wortwahl in Bezug auf Schwarze und ein Parteiausschlussverfahren, an dessen Ende er die Mitgliedschaft ruhen ließ, noch relativ frisch.
In der Universitätsstadt mit Stocherkahn-Tradition am Neckar leben mehr als 90.000 Menschen. Seit Amtsantritt forciert Palmer dort die Vereinbarkeit von Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. 2008 rief er die Klimaschutzkampagne „Tübingen macht blau“ ins Leben. Devise: Die Lebensqualität solle steigen, ohne Natur und Klima zu überlasten. Fast alle städtischen Dächer seien mit Solaranlagen ausgestattet, drei Gymnasien energetisch saniert, am Bahnhof entstehe eine Tiefgarage für 1100 Fahrräder und 72 Autos, warb der passionierte Radfahrer im jüngsten Wahlkampf. Und es könnte weitergehen: Neue Windräder sollen einen relevanten Anteil des Stromverbrauchs decken. Um mehr Menschen für den Beruf der Erzieherin oder des Erziehers zu gewinnen, schlug Palmer ein städtisches Personalwohnheim vor.
Der Technologiepark „Cyber Valley“ spült Gewerbesteuern in die Stadtkasse und schafft Arbeitsplätze. Während der Corona-Pandemie ging Tübingen einen Sonderweg und ermöglichte mit kostenlosen Tests mehr Öffnungsschritte etwa für Einkäufe, Friseurbesuche und Theater.
Was die Tübinger an ihrem OB Boris Palmer schätzen
Über der Tübinger Innenstadt scheint am Mittwoch die Sonne, zahlreiche Menschen sind unterwegs. Angesprochen auf ihren Rathauschef antworten sie beinahe routiniert. Man kennt die Aufregung schon. „Ich mag meinen Oberbürgermeister sehr“, sagt etwa Ulrike Gottschalk. Die 72-Jährige steht hinter Palmer, äußert aber auch Kritik. „Mit seiner Arbeit bin ich nach wie vor zufrieden, aber mit seinen Äußerungen und seinen Ausrutschern überhaupt nicht.“
Ähnlich sieht es Student Moritz Bollacher (27). Palmer leiste gute Kommunalpolitik und habe viele Projekte angestoßen, die Zuspruch in Tübingen fänden. Davon müsse man seine Äußerungen außerhalb der Kommunalpolitik trennen. „Er ist bekannt dafür, dass er sehr klare Worte findet und provozieren kann. Das ist in mancher Situation auch notwendig“, sagt Bollacher mit Verweis auf die Corona-Pandemie. Palmer tue sich aber keinen Gefallen, wenn er „seinen Hitzkopf durchscheinen lässt“.
Boris Palmer nach Nazivergleich nicht mehr Mitglied der Grünen
Gerade die impulsive Art hat den Vater dreier Kinder und ehemaligen Waldorfschüler nun gestoppt. Nachdem er den Umgang mit ihm mit der Judenverfolgung unter den Nazis verglichen hatte, hagelte es am Wochenende Kritik. Palmer trat bei den Grünen aus, kündigte eine Auszeit für Juni an. Dann will er auch sein Amt als Oberbürgermeister ruhen lassen und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Die Auszeit und dass Palmer ankündigte, sich Unterstützung von Fachleuten zu suchen, findet Bollacher gut. Für die Tübinger Studentin Merit Maier dagegen ist Palmer als Oberbürgermeister untragbar. Äußerungen, wie er sie treffe, dürfe kein Mensch und erst recht kein Politiker machen, findet die 19-Jährige. Die Auszeit sei einen Versuch wert, „aber meine Erwartungen sind sehr gering“.
Ob es danach wieder um politische Inhalte statt um die Person Palmer geht, bleibt abzuwarten. Denn wie Kommunikationswissenschaftler Brettschneider sagt: „Mit seinen unkontrollierten Provokationen hat er sich selbst und seiner politischen Sache eher geschadet.“