An einem frostigen Februarmontag sitzt Frauke Eggerl auf einem Spielplatz in Tübingen, vergräbt ihre Finger in den Taschen der lila Jack-Wolfskin-Jacke und sagt: „An meinen Rentenbescheid mag ich gar nicht denken.“ Es ist 13 Uhr, und Eggerl – 43 Jahre, drei Kinder, drei Jobs – hat gerade eine Lücke in einem durchgeplanten Tag. Am Vormittag hat die Skandinavistin ein Seminar an der Volkshochschule Filderstadt gegeben, nachher kommen die großen Kinder aus der Grundschule und die Dreijährige wird aus der Kita abgeholt, dann steht das Nachmittagsprogramm an.
Vorher will Eggerl, die im Kita-Gesamtelternbeirat (GEB) der Uni-Stadt sitzt, von der Lage der Kinderbetreuung in Tübingen erzählen und von Nöten und Sorgen der Eltern. Die haben zugenommen, seit der Gemeinderat beschlossen hat, die Öffnungszeiten städtischer Kitas wegen Personalmangels deutlich zu kürzen. Der GEB schrieb zornige Briefe, es gab Demos auf dem Marktplatz und Proteste im Rathaus.

„Das ist schon hart“

„Im Gemeinderat kamen Kinder in den Sitzungssaal mit Schildern, auf denen stand: Ich bin euch egal“, sagt Tübingens Sozialbürgermeisterin Daniela Harsch und runzelt die Stirn. „Das ist schon hart.“ Für ihre Mitarbeiter, die das Konzept erstellen, sei die Situation sehr belastend. Harsch (40) sitzt vor ihrer Webcam und erklärt die Kürzungspläne. Die Sozialdemokratin argumentiert mit Mitarbeiterzahlen und Betreuungsquoten, Arbeitsmarktstatistiken und Nutzeranalysen. Zusammengefasst sagt sie, die Stadt mache sich ehrlich. „Wir haben beschlossen, nicht mehr so zu tun, als würde sich das Problem von selbst erledigen. Wir planen jetzt so, wie es unser Personal tatsächlich hergibt.“
Tübingen habe seine Kita-Fachkräfte in den vergangen zehn Jahren fast verdoppelt, Hilfs- und Hauswirtschaftskräfte eingestellt, Organisation ausgelagert. „Aber es reicht alles nicht.“ 40 von 43 städtischen Kitas lagen zeitweise unter dem Personalschlüssel, ständig wird ad hoc gekürzt. „Jeder kurzfristige Ausfall wegen Krankheit schlägt sofort durch. Das geht zu Lasten der Fachkräfte und der Eltern. Ich verstehe den Ärger der Betroffenen und sehe die Probleme, aber der Personalmangel ist, wie er ist.“

Problem: Fachkräftemangel

Das Problem besteht fast überall im Land. Zwar gibt es Rechtsansprüche auf Betreuung, doch manche Kinder kriegen trotzdem keinen Platz. Zwar erlaubt das Land, Gruppen zu vergrößern und Fach- durch Hilfskräfte zu ersetzen, doch Kommunen prognostizieren trotzdem einen „Kollaps“. Verbände warnen, Erzieherinnen kämen zunehmend Aufsichtspflichten nicht mehr nach. Eltern klagen über spontane Schließungen und Bitten, Kinder früher abzuholen.
„Wir sind gleich mit gekürzten Öffnungszeiten gestartet“, sagt Patrick Bayer, dessen einjährige Tochter seit August eine Kita in Schorndorf besucht. 50 Stunden pro Woche haben Bayer und seine Frau bei der Stadt gebucht: 7 bis 17 Uhr, für 703 Euro im Monat. Da beide in Vollzeit arbeiten, mit vielen Dienstreisen, schöpfen sie das auch fast aus – wenn nicht wieder mal gekürzt wird.
„Die Nachricht kommt meist am Tag vorher“, sagt Bayer – Vollbart, Zopf, Kapuzenpulli – und reicht das Handy über seinen Esstisch. „Reduzierung der Öffnungszeiten auf 40h“, lautet der Betreff der Nachricht. Wenn Bayer durch die Kita-App scrollt, sind da viele solcher Mails.

Hilfe von den Großeltern

„Sobald so eine Ankündigung kommt, sprechen wir mit meinen Schwiegereltern.“ Die wohnen rund 40 Minuten entfernt und „machen alles möglich, um uns zu helfen und Zeit mit ihrer Enkelin zu verbringen“. Auch mit Homeoffice und anschließender Nachtarbeit lasse sich manches abfangen, aber er sei nun mal im Außendienst. „Ohne meine Schwiegereltern ginge es nicht.“
Fachkräftemangel gilt als größtes Problem des Bildungssystems. Baden-Württemberg hat hervorragende Betreuungsschlüssel, doch es fehlen zehntausende Erzieher. Und die Lage verschärft sich. Zwar ist das Personal stark gewachsen, doch das reicht nicht. 2012 wurden 390 000 Kinder betreut, 2022 gut 470 000 – und immer mehr jüngere.

Es trifft oft die Frauen

Damit einher ging die Angleichung der Erwerbstätigkeit von Männern und Frauen. Mittlerweile machen sie rund die Hälfte der Erwerbstätigen aus, ihre Zahl stieg zuletzt doppelt so stark wie die der Männer. Zwei Drittel der Mütter von Kindern über drei Jahren sind erwerbstätig. Möglich machten das zuverlässige Kitas. Wenn dies nicht mehr funktioniert, springen laut Studien meist Mütter ein, die sowieso schon in Teilzeit arbeiten.
„Es trifft meist die Frauen“, sagt auch Frauke Eggerl in Tübingen. Ihr Mann verschiebe im Homeoffice häufig Arbeit in die Nacht, um tagsüber Kinder zu hüten. Aber er ist es auch, der mit seinem Informatikergehalt den Großteil des Haushaltseinkommens erwirtschafte, etwa um 1600 Euro Kaltmiete zu zahlen.
Sie selbst verdient ihr Geld vor allem freiberuflich, mit Deutsch- und Integrationskursen sowie Norwegisch-Seminaren an der Volkshochschule. In den Covid-Lockdowns brach das weg. Umso wichtiger war das Gehalt des Mannes und ihr drittes Standbein: Schichtdienste auf Lohnsteuerkarte, beim Wach- und Schließunternehmen eines Bekannten.

Fast zehn Wochenstunden weniger

Dieses Konstrukt ist jetzt gefährdet. Statt täglich von 7.30 bis 16.30 Uhr soll ihre Kita an drei Tagen um 15.30 schließen, an zwei um 13.15 Uhr. Doch ihre Schichtdienste dauerten neun Stunden, plus Anfahrt. Sie kann nicht einfach nach fünf Stunden gehen, weil die Kita schließt. Und halte sie ein Seminar nicht, fehle ein vierstelliger Betrag.
„Bei mir geht es wirtschaftlich um viel. Eigentlich um die Existenz“, sagt Eggerl. „Aber es geht nicht nur um unser Familieneinkommen und meine Rente, es geht auch um meine Reputation unter Kollegen. Ich bin nicht zuverlässig, ich kann nicht spontan einspringen oder Schichten tauschen.“ Und was solle sie sagen, wie oft oder lange sie arbeiten kann, wenn sie sich irgendwo bewerbe? „Ich bin 43 Jahre alt und habe mich nie diskriminiert gefühlt – bis jetzt“, sagt sie und setzt ein schiefes Lächeln auf.
Allen Eltern sei klar, dass die Stadt sich keine Erzieher backen kann. Doch die neuen Pläne seien auch alltagsfremd. Zwar hätten die Kinder um 13.15 Uhr ein warmes Essen im Bauch, doch für den Mittagschlaf der Jüngeren bleibe keine Zeit. Harsch sagt, die Pläne seien noch nicht endgültig, man prüfe für jede Kita den tatsächlichen Bedarf. Doch dass gekürzt wird, steht fest. Eggerl hofft noch. Sie sagt: „Wir kämpfen jetzt für 14 Uhr. Damit die Kinder wenigstens schlafen können.“ Davon abgesehen setzt auch sie, wie Familie Bayer in Schorndorf, auf ihre Mutter, die jetzt schon oft auf die Kinder aufpasst. „Ohne die Oma ginge es nicht. Aber die ist 78 Jahre alt und geht gerade an Krücken.“

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