Juristen, Betroffene, Parteien und Sozialverbände hoffen seit Jahren auf ein klärendes Wort aus Karlsruhe – nun ist es so weit: Am 15. Januar wird das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Hartz-IV-Sanktionen verhandeln (Az. 1 BvL 7/16). Im Vordergrund steht die Frage, ob Leistungskürzungen mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar sind. Es geht aber auch um die Berufsfreiheit und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet und könnte der Berliner Debatte über das Hartz-IV-System neuen Stoff geben.

Die Grundlage

„Fördern und Fordern“ – das war vor gut 15 Jahren die politische Vorgabe für die Hartz-IV-Reformen, und dieses Prinzip steht auch im Gesetz.  Leistungsempfänger sind zur Mitwirkung bei der Arbeits- oder Ausbildungssuche verpflichtet.  Bei Verstößen werden von den Jobcentern Sanktionen verhängt. Dass sie wirken, haben Forscher nachgewiesen. „Ziel des Systems ist die Integration der Betroffenen in Erwerbsarbeit“, sagt Joachim Wolff, Hartz-IV-Experte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. „Unsere Studien haben bestätigt, dass die Sanktionen dazu beitragen, diesen Prozess zu beschleunigen.“

Die Kritiker

Das sogenannte „Sanktionsregime“ wird inzwischen von immer mehr Seiten abgelehnt. Kirchen sehen die Würde der Betroffenen tangiert: „Die Sanktionen sind menschenrechtlich fragwürdig und verschärfen die soziale Ausgrenzung“, heißt es in einer Stellungnahme der Diakonie Deutschland zum Verfahren. Der DGB stellte jüngst in einem Diskussionspapier fest: „Sanktionen drängen Arbeitslose schnell in prekäre und niedrig entlohnte Arbeit und unterhöhlen das Existenzminimum.“ Die Grünen diskutieren über eine „Garantiesicherung“ ohne Zwänge. In der SPD ist noch strittig, ob die Sanktionen weitgehend abgeschafft (Parteichefin Andrea Nahles) oder nur eingedämmt (Arbeitsminister Hubertus Heil) werden sollen. Die Linke fordert das Aus von Hartz IV.

Der Fall

Die Karlsruher Richter befassen sich mit einem 1982 geborenen Mann aus Thüringen, der vor dem Sozialgericht Gotha geklagt hat. Ihm hatte das Jobcenter Erfurt 2014 zwei Mal den damaligen Hartz-IV-Regelsatz von 391 Euro gekürzt, zunächst für drei Monate um 30 Prozent (monatlich 117,30 Euro), dann nochmals für drei Monate um 60 Prozent (monatlich 234,60 Euro). Der Arbeitslose hatte zunächst einen Job als Lagerarbeiter abgelehnt, weil er im Verkauf arbeiten wollte, wie aus einem Beschluss des Sozialgerichts hervorgeht. Aus Sicht des Jobcenters war das Angebot jedoch „zumutbar“: Der im Logistik-Bereich aus­gebildete Mann sei verpflichtet, seine Hilfebedürftigkeit zu verringern und auch eine Tätigkeit auszuüben, die nicht seinen „persönlichen Vorlieben“ entspreche. Kurz darauf  lehnte er eine „praktische Erprobung“ bei einem anderen Arbeitgeber ab – Grund für die zweite Sanktion. Das Sozialgericht hält die Kürzungen für verfassungswidrig und schaltete das Bundesverfassungsgericht ein, das sich schon 2010 mit Hartz IV befasst hatte: Damals sorgte es dafür, dass die Regelsätze neu berechnet werden mussten.

Das Gesetz

Der Thüringer Fall entspricht dem üblichen Mechanismus, der in Paragraf 31 im Sozialgesetzbuch SGB II geregelt ist. Sanktioniert wird demnach, wer keine Eigenbemühungen vorweist, also beispielsweise nicht genügend Bewerbungen schreibt, wer eine zumutbare Arbeit oder Ausbildung ausschlägt oder wer eine zumutbare Eingliederungsmaßnahme – etwa ein Bewerbungscoaching oder eine Fortbildung –  nicht antritt oder abbricht. Auch wer sich unwirtschaftlich verhält, zum Beispiel zu hohe Heizkosten verursacht, muss mit Leistungskürzungen rechnen.   Die Minderung des Hartz-IV-Satzes von aktuell 424 Euro für ­Alleinstehende folgt jeweils in Stufen, erst sind es 30 Prozent, bei der ersten Wiederholung 60 Prozent und bei weiteren Wiederholungen innerhalb ­eines Jahres entfällt das gesamte Arbeitslosengeld II. Allerdings können dann Sachleistungen, etwa Lebens­mittel-Gutscheine, beantragt werden. Wer Kinder hat, bekommt diese zwingend.  Für bloße Meldeverstöße, wenn man etwa einen vereinbarten Termin im Jobcenter versäumt, gibt es 10 Prozent Abzug.

Die Unterschiede

Besonders umstritten ist der Umgang mit jungen Arbeitslosen. Denn wer unter 25 Jahre alt ist, wird noch schärfer sanktioniert. Schon der erste Verstoß, abgesehen von einem verpatzten Termin, schlägt mit einer 100-Prozent-Kürzung zu Buche. Im Wieder­holungsfall entfallen auch noch die Zahlungen für Unterkunft und Heizung. Bis jetzt haben Richter dieser Ungleichbehandlung keinen Riegel vorgeschoben. So urteilte das Sozialgericht Leipzig 2014 im Fall eines 24-Jährigen, dass die ­Total-Sanktionierung nicht gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoße. Sozial­leistungen seien nicht „voraussetzungslos“, hieß es. Der 24-Jährige hatte sich geweigert, eine öffentlich geförderte ­Arbeitsgelegenheit in einem Verein anzutreten.
Kritiker monieren, dass schwere Sanktionen bis zur Wohnungslosigkeit führen können, also weiter in die soziale Abwärtsspirale. Auch das IAB sieht diese Praxis skeptisch: „Sehr hohe Sanktionen können sich kontraproduktiv auswirken, gerade bei jüngeren, alleinstehenden Arbeitslosen“, sagt Wolff. Es bestehe das Risiko des „Rückzugs“ – vom Leistungsbezug und von der offiziellen Arbeitssuche. Dem Experten zufolge gibt es Indizien, dass diese Sanktionen dann „letztlich auch eine Rolle bei Obdachlosigkeit oder Schwarzarbeit spielen können“.

Die Statistik

Im gesamten Jahr 2017 sprachen die Jobcenter laut Bundesagentur für Arbeit knapp 953 000 Sanktionen aus. Die Behörde betont dabei immer wieder, dass sich der allergrößte Teil der Hartz-IV-Bezieher an die Regeln hält. Die meisten Sanktionen (77 Prozent) wurden  wegen Meldeversäumnissen verhängt. Auffällig ist, dass die Zahl der Sanktionen seit 2007 erst deutlich zulegte und sich auch in den letzten fünf Jahre kaum verringert hat, obwohl die Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger wegen des Jobbooms deutlich abnahm: von 5,3 Millionen Anfang 2007 auf rund 4 Millionen Ende 2018. Das deutet auf strengere Kontrollen hin.

Die Erwartungen

Arbeitsmarktexperten rechnen mit einem eher komplexen, ­differenzierten Urteil der Verfassungsrichter. Ein komplettes Aus für die Sanktionen käme überraschend. „Die Abschaffung würde den Beratungs- und Vermittlungsprozess sicherlich erschweren“, sagt Wolff, was sich dann auch auf Arbeitsmarkt und Arbeitslosenzahlen auswirken könne. Reformbedarf sieht er dennoch: „Alg-II-Empfänger sollten weiter zur Mitwirkung verpflichtet sein. Aber das darf nicht so weit gehen, dass die Sanktionen zu Wohnungsverlust, psychischen Problemen oder gar zu Hunger führen.“

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