Herr Kühnert, finden Sie eigentlich auch so verrückt, was im vergangenen Jahr alles passiert ist?
Kevin Kühnert: Ja, das trifft es schon. Als ich mich um den Vorsitz der Jusos beworben habe, war nicht absehbar, was so alles passieren wird. Das war ein Jahr mit einem unglaublichen Tempo, mit permanent neuen Entwicklungen und mit viel Aufmerksamkeit für die Jusos. Es war ein Jahr mit Licht und Schatten.
Wo gab es denn Licht?
Bei der Entwicklung der Jusos beispielsweise: Wir haben jetzt knapp 80.000 Mitglieder, das ist ein Höchststand seit vielen Jahren. Der Verband ist hoch motiviert. Ständig werden neue Juso-Gruppen gegründet, gerade im ländlichen Raum. Und wir können uns auf die Fahne schreiben, auch etwas zur Wiederbelebung der politischen Debatte beigetragen zu haben.
Haben Sie denn auch Fehler gemacht?
Ja klar! Beim Parteitag im Dezember in Berlin hätten wir Plätze im Parteivorstand beanspruchen müssen. Nicht nur für die Jusos, sondern für mehr Vielfalt in der Führungsspitze der SPD. Es hätte uns im Laufe des Mitgliedervotums viel Ärger erspart, wenn die Mitglieder gesehen hätten, dass auch eine Minderheitenposition an der Parteispitze repräsentiert ist.
An diesem Wochenende treffen sich die Jusos zum Bundeskongress. Was sind da die wichtigen Themen?
Europa steht im Mittelpunkt. Wir müssen klären, wie wir die Europafeinde stellen. Wir dürfen aber auch nicht der Erzählung auf den Leim gehen, dass sich alle an die Seite von Macron stellen. Mit Macron teilen wir zwar die Begeisterung für Europa, aber nicht die Vorstellung, wo die Reise mit Europa hingehen soll. Wir sind keine Liberalen! Wir wollen eindemokratisches Europa, das Standards für Beschäftigung, soziale Sicherheit und Klimaschutz setzt und nicht nur für Urlauber und Studierende im Alltag gut funktioniert. Und dazu habe ich von Macron noch nicht viel gehört.
Sind die Landtagswahlen im kommenden Jahr ähnlich bedeutend wie die Europawahlen?
Natürlich sind die wichtig und wir werden die Wahlkämpfer auch massiv unterstützen. In diesem Jahr hat sich die Diskussion viel um Ostdeutschland gedreht, Chemnitz war nur ein Beispiel dafür. Aber die Menschen im Osten sind ja nicht per se rassistischer als in anderen Teilen von Deutschland. Woran es aber mancherorts fehlt, ist eine starke Zivilgesellschaft. Viele Menschen halten zwar die Fahne für die Demokratie hoch. Sie werden aber angefeindet, fühlen sich allein gelassen und gehen auf dem Zahnfleisch. Deshalb ist es wichtig, dort die Strukturen zu unterstützen. Nicht nur in Parteien.
In Brandenburg könnte die SPD den Ministerpräsidenten-Posten verlieren. Wie lässt sich das noch verhindern?
Man kann es auch positiv sehen: Wir haben dort die realistische Chance, den Ministerpräsidenten weiterhin zu stellen. Die wollen wir nutzen. Wir konkurrieren mit der AfD um den ersten Platz. Die Frage ist: Wer soll Brandenburg sonst regieren? Der CDU-Landeschef in Brandenburg fantasiert offen über Bündnisse mit der AfD, während der AfD-Landeschef sehr weit rechtsaußen zu verorten ist. Es wird bei den drei Landtagswahlen auch darum gehen, ob die CDU die Tür für Tabubrüche aufmacht. Mit der SPD ist das nicht zu machen.
Beim Bundeskongress sind auch Andrea Nahles und Lars Klingbeil zu Gast. Was wollen Sie den beiden mitgeben?
Wir werden zurückschauen auf ein schwieriges Jahr, aber auch nach vorne. Die Impulse zur Überwindung von Hartz IV haben eine gute Grundlage für inhaltliche Debatten gegeben. Wir fordern aber auch, dass die zugesagten Projekte, wie die Reform des Paragrafen 219a und die Mindestausbildungsvergütung, zügig abgearbeitet werden.
Beim Paragraf 219a hat die SPD-Bundestagsfraktion der Union massiv unter die Arme gegriffen, indem sie stillhält und deren Debatten einfach mitträgt. Wie sehen Sie das?
Beim 219a gibt es den Kompromiss, dass wir bis zum Herbst eine Lösung in der Koalition suchen. Andernfalls nutzen wir die vorhandene Mehrheit aus Rot, Rot, Grün und Gelb. Spitzfindig könnte man sagen, dass der Herbst kalendarisch bis zum 21. Dezember geht. Meinetwegen. Aber danach ist meine Erwartung klar: Ärzte dürfen nicht mehr kriminalisiert werden, wenn sie über Leistungen informieren, die sie anbieten. Die Angstmacherei gegenüber betroffenen Frauen muss aufhören.
Das dürfte schwierig werden, egal wer dann die CDU führt. Was erwarten Sie von der Wahl in der nächsten Woche? Rückt die Partei nach rechts?
Der spannende Punkt ist doch ein anderer: Weder Merz noch Kramp-Karrenbauer haben ein Regierungsamt. Sie brauchen deshalb ein eigenständiges Profil jenseits der Kanzlerin. Es würde mich nicht wundern, wenn wir Anfang des Jahres eine Art Nachverhandlung des Koalitionsvertrages erleben. Der Dieselskandal zum Beispiel konnte im Koalitionsvertrag auch noch nicht ausreichend geregelt werden.
Beim Debattencamp vor ein paar Wochen ist der SPD das Bier ausgegangen. Viel schlimmer kann es beim Juso-Kongress eigentlich nicht kommen, oder?
Wir sind beim Debattencamp auf Weißwein umgestiegen, und das hat auch funktioniert. Außerdem ist gerade erst Wölfi, der Sänger der Punkband „Die Kassierer“, in die SPD eingetreten. Die singen ja: „Am schlimmsten ist, wenn das Bier alle ist.“ Wir haben da jetzt also Fachkompetenz an Bord.
Wie war das Debattencamp sonst so?
Die SPD hat sich jung, innovativ und weniger geleckt gezeigt, als manche vorher dachten. Das tat gut. Nun warten wir auf die Auswertung. Wir wollen sehen, dass das auch tatsächlich in die Erneuerung einfließt.
Wie weit ist die Partei denn mit der Selbstrettung?
Ein paar Dinge sind auf einem guten Weg. In den nächsten Wochen werden wir konkret aufschreiben, wie der Sozialstaat künftig aussehen soll. Ich bin vorsichtig optimistisch: Nach verschiedenen Äußerungen der letzten Wochen bleibt nicht viel von der Misstrauenskultur des Hartz-Systems übrig. In den nächsten ein oder zwei Monate können wir bei den Inhalten größere Schritte vorankommen.
Was Sie schildern, hört sich positiv an. Sind Sie etwa milde geworden?
Nein, ich bin einfach ein optimistischer Mensch. Was soll ich denn die ganze Zeit miesepetrig rumlaufen? Da wüsste ich mit meiner Lebenszeit was Besseres anzufangen und könnte mehr Fußball gucken. Ich habe das Privileg mitarbeiten zu können und investiere so viel Zeit, weil ich glaube, dass es klappen kann.
Kann sich die Partei also doch innerhalb der Regierung erneuern?
Naja, noch läuft das ja alles intern. Entscheidend wird sein, ob wir den Spagat zwischen Regierungsarbeit, die eine umfassende Hartz-IV-Reform nicht ermöglichen wird, und der Zielsetzung für die Zukunft aushalten. Wir kommen nicht daran vorbei, dass Hartz IV für einen großen Teil der Arbeitsgesellschaft das Damoklesschwert ist. Das haben viele in der SPD lange Zeit nicht verstanden. Der Widerstand gegen Sanktionen und gegen Hartz IV war immer größer als der Kreis der Betroffenen. Das muss man auf einer emotionalen Ebene verstehen, nicht auf einer ministerialbürokratischen.
Für Sie als Jusos müsste die Bildungsministerin eine besondere Rolle spielen. Wir schätzen Sie die Arbeit von Ministerin Karliczek ein?
Es ist doch faszinierend: Erst hört man monatelang gar nichts von ihr, und jetzt kommen gleich drei Dinger. Da sind ihre merkwürdigen Äußerungen über die Frage, wie es Kindern in Regenbogenfamilien geht. Das war abstrus. Ihre Äußerung, dass es 5G nicht an jeder Milchkanne geben müsse, war respektlos gegenüber ländlichen Regionen – und fachlich falsch. Das Einzige, was tatsächlich in ihrem Fachbereich etwas zu suchen hatte, ist die Mindestausbildungsvergütung. 504 Euro sind da ihr Vorschlag in Anlehnung ans Schüler-Bafög. Das zeigt: Sie hat ihr Fach nicht verstanden. Das Schüler-Bafög ist eine Sozialleistung, und die Ausbildungsentschädigung hat nichts mit einer Sozialleistung zu tun. Außerdem verbessern 504 Euro für kaum einen Azubi seine prekäre Lage. Wir unterstützen die Forderung des DGB in Höhe von 635 Euro im ersten Ausbildungsjahr. Ich verstehe nicht, wie es zu dieser Referenz und dieser Fehleinschätzung gekommen ist.
Haben Sie eine Idee?
Auf mich wirkt die Ministerin überfordert. Sie hält sich mit Petitessen auf, und das in einer Wahlperiode, in der wir erstmals die Verantwortung für Bildungspolitik wieder stärker auf die Bundesebene holen. Das müsste die Hoch-Zeit für eine Bildungsministerin sein, weil sie endlich mal etwas bewegen könnte. Aber sie scheint die falsche Besetzung zu sein.
Sie selbst sind noch mindestens ein Jahr Juso-Vorsitzender. Und dann?
Ich könnte noch eine Runde kandidieren danach, denn Juso-Mitglied ist man bis 35. Aber das habe ich für mich noch nicht entschieden. Es ist ein forderndes Jahr gewesen und ich habe mir vorgenommen, ich mache das jetzt ein Jahr durch bis Weihnachten und fahre dann in den Urlaub. Dann überlege ich mir, ob ich das längerfristig so will oder ob das eine Phase war, nach der Normalität einkehren sollte.
Wo geht’s denn hin in den Urlaub?
Skifahren natürlich.