Matthias Schulze-Böing ist Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter. Über die aktuelle Hartz-IV-Debatte schüttelt er den Kopf. Die beteiligten Politiker hätten offenbar wenig Ahnung.
Herr Schulze-Böing, wie kommt die Diskussion über eine Abschaffung von Hartz IV bei den Mitarbeitern der Jobcenter an?
Bei uns kommt der Eindruck an, dass sich die an der Debatte beteiligten Politiker bisher wenig mit der Sache befasst haben. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hat zuletzt die Jobcenter sogar als Sanktionszentren verunglimpft. Das ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht unserer Mitarbeiter, die sehr engagiert versuchen, für Menschen ohne Arbeit eine Perspektive aufzubauen. Die Sanktionsquote beträgt auch gerade mal 3,2 Prozent. Es geht also nur um eine kleine Minderheit. Dennoch werden in gewissen Zyklen immer wieder neue, teils krude Ideen zu Hartz IV durch das Land getragen. Momentan gibt es geradezu einen Überbietungswettbewerb.
„Das deutsche System ist eines der generösesten in Europa“
Sie sehen also keinen Bedarf, an Hartz IV etwas zu ändern?
Über die Reformideen, die gerade diskutiert werden, kann man größtenteils nur den Kopf schütteln. Es ist wie mit der Steuerreform auf dem Bierdeckel. Das klingt toll und elegant, funktioniert so aber nicht. Die Politik weckt damit völlig falsche Erwartungen. Die Androhung von Sanktionen beispielsweise hat erwiesenermaßen dazu beigetragen, Phasen der Arbeitslosigkeit zu verkürzen. Es spricht nichts dafür, dieses System abzuschaffen. Sanktionen gab es übrigens auch schon vor den Hartz-Reformen. Die Arbeitsagenturen verhängen bei Pflichtverletzungen Sperrzeiten. Auch in der alten Sozialhilfe gab es die Versagung von Leistungen, wenn die Klienten nicht mitgezogen haben.
Ist es denn nicht ungerecht, dass für junge Menschen unter 25 Jahren schärfere Sanktionen gelten als für Ältere?
In diesem Punkt bin ich ausnahmsweise auf der Seite der Kritiker. Die Absicht, bei den Jüngeren genau hinzuschauen, ist zwar gut. Aber es sollte einheitliche Regeln für alle geben. Auch die Forderung, dass Menschen nach einem langen Arbeitsleben bei Verlust ihres Jobs nicht so schnell auf Hartz-IV-Niveau abfallen, kann ich nachvollziehen. Hier könnte man die Regeln für das Schonvermögen großzügiger gestalten und stärker an die Lebensleistung knüpfen.
Auch über die Möglichkeit höherer Zuverdienste wird diskutiert…
Ja, auch das wäre ein Weg, die Abbruchkanten etwas zu glätten. Das Hartz-IV-System wurde immer wieder überarbeitet und muss sicher auch künftig weiterentwickelt werden. Dafür braucht man aber keinen Systemwechsel. Die Grundlogik des Gesetzes ist richtig. Und was die Hartz-IV-Sätze angeht: Das deutsche System ist eines der generösesten in Europa, wenn nicht sogar weltweit. Es wäre für den Arbeitsmarkt, aber auch für das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen nicht gut, wenn man allein mit Sozialleistungen gleich oder sogar besser gestellt würde als jemand, der den ganzen Tag arbeiten geht. Das gebietet das Lohnabstandsgebot.
Hartz IV steht aber auch deshalb so in der Kritik, weil es als Bürokratiemonster gilt. Wäre es nicht auch im Interesse der Jobcenter-Mitarbeiter, das komplizierte System abzuschaffen und durch eine Art Grundeinkommen für Bedürftige zu ersetzen?
Das Gesetz ist nicht die einzige Ursache für die Komplexität. Die Rechtsprechung der Sozialgerichte zwingt uns immer wieder dazu, die Regelungen sehr einzelfallbezogen auszulegen und anzuwenden. Es muss weitere Anstrengungen geben, die Anwendung zu vereinfachen, durch Pauschalen und den Verzicht darauf, jeden Einzelfall detailliert zu regeln. Hier gab es in den letzten Jahren schon Fortschritte.