Der Mann auf dem Foto lächelt verhalten in die Kamera, so richtig bereit für den Schnappschuss scheint er nicht zu sein. Schließlich muss er arbeiten. Im weißen Hemd und mit Krawatte steht der Wirt hinterm Tresen, aus einem Glas löffelt er Oliven. Seine Gäste haben Hunger, Durst.
Mehr als 20 Jahre ist es her, als dieses Schwarz-Weiß-Foto aufgenommen wurde. In einem schlanken Rahmen hängt es an der Wand des Lokals Espresso 29 in der Platzgasse.
Gut einen Meter gegenüber, hinterm Tresen, steht er immer noch, der Mann im weißen Hemd. Heute trägt er Fliege statt Krawatte. Aber sonst? Das Lächeln ist noch da, der Schnurrbart, der Ring am linken Ringfinger.
Der Mann hat einen klangvollen Namen: Cosimo Damiano di Punzio. Aber kaum einer der Gäste, die um den mit Mahagoni-Holz verkleideten Tresen sitzen, weiß das. Alle nennen ihn Mimmo: „Mimmo, nochmal einen Espresso“, „Mimmo, einen Aperol, bitte.“ Mimmo hört, Mimmo macht.
Seit 42 Jahren betreibt der gebürtige Süditaliener die kleine Kneipe in der Innenstadt. Der Gastraum misst gerade mal 36 Quadratmeter, man könnte ihn auch als Abstellkammer nutzen. Na und? Für die, die bei Mimmo zechen, reichen diese vier Wände völlig aus, um hier hin und wieder die Weltlage zu erörtern. Geredet wird über Krieg, Sport, Steuern, Urlaub.
Es kann auch mal hitzig werden. Gerade, wenn es um Politik oder Religion geht. Dann greift Mimmo, der mit Hemd, Fliege und seiner freundlich-bestimmten Art auch eine 90-Jahre-Talkshow hätte moderieren können, als italienische Antwort auf Alfred Biolek vielleicht, beherzt ein: „Stopp.“ Es gibt Grenzen in dieser Kneipe.
Das gilt im Übrigen auch für ihn selber. Der 71-Jährige hat, so sagt er, seine persönliche Altersgrenze erreicht. Seine Knochen und seine Geduld machen das alles nicht mehr mit. Am 29. April 2023 ist finito, Sense. Mimmo geht in Ruhestand.
1965 ausgewandert
Es ist ein Datum, das wie aus der Pistole geschossen kommt. Lechzt er diesem Tag derart entgegen? Man sollte sich nicht täuschen lassen. Mimmo kann sich alle wichtigen Daten in seinem Leben merken. Ein anderes ist der 15. April 1965.
Es war der Tag, an dem der Apulier in der schwäbischen Provinz ankam. Mit seinen Geschwistern folgte er den Eltern, die in Unterkirchberg als Gastarbeiter ihr Glück versuchten. Eigentlich hätte Mimmo ja Priester werden sollen. Doch der Teenager interessierte sich zu dieser Zeit mehr fürs andere Geschlecht als fürs Zölibat. Also tauschte er – mit reichlich Gegenwind des Vaters – die Priesterschule in Rom gegen ein Leben in Deutschland.
Zunächst half Mimmo seinem Bruder im Neu-Ulmer TSV-Sportheim, dann machte er eine Ausbildung als Energieanlagenelektroniker und bekam schließlich das Lokal am Eingang der Platzgasse angeboten. Der Name war schnell gefunden: Espresso, weil Espresso die Spezialität des Hauses werden sollte; 29 wegen der Hausnummer und weil Mimmo zu dieser Zeit 29 Jahre alt war.
Der Wirt merkte schnell: „Ein guter Gastronom muss eine Mischung aus Blitzableiter und Schildkröte sein.“ Ein Blitzableiter für die Probleme der Gäste, ausgestattet mit dem Panzer einer Schildkröte für die eigene Seele.
Mit dieser Philosophie hat Mimmo seine 36 Quadratmeter über die Jahre zu einem beliebten Treffpunkt gemacht. Alle Gesellschaftsschichten sind vertreten: Bauarbeiter, Maler, Lehrer, Ärzte. Alt-OB Ivo Gönner kommt bis heute immer wieder vorbei, ebenso Ex-Ministerialdirigent Werner Schempp.
Besonders schwer dürfte Mimmos Abschied aber den Juristen aus dem Gerichtsgebäude nebenan fallen. Das Espresso 29 ist quasi der Haus- und Hof-Italiener der Anwälte und Richter, die bei schwarzem Kaffee oder weißem Wein nicht selten die Gerichtsverfahren nach- und die Urteile vorbesprechen. Gibt es eine Verhandlungspause, trifft man sich automatisch bei Mimmo – und zwar ohne, dass dies ausdrücklich vereinbart werden muss.
So schließt sich der Kreis: Mimmo, der als kleiner Junge Anwalt werden wollte, fand zwar nie den Weg in die Juristerei. Mit seinem Lokal wurde er in vier Dekaden aber – wenn man so will – zu einer außergerichtlichen Rechtsinstitution. Das unterstreicht auch der Spitzname, den die Ulmer dem Espresso 29 gegeben haben: Café Justitia.
Sonne, Tomaten, Enkelkinder
Nun will Mimmo seine persönliche Waage ins Gleichgewicht bringen, die Arbeit wog über all die Jahre schwer. Das Erste, was er im Ruhestand tun wird: mit seiner Frau in die alte Heimat reisen, sechs Wochen Süditalien, essen, in der Sonne liegen, Ulm Ulm sein lassen.
Danach ist der heimische Garten in Bermaringen dran. Rasen mähen, Beete umgraben, vielleicht pflanzt er Tomaten an. Es gibt etwas zu tun. Seine Enkelkinder kommen ihn besuchen, die Töchter sowieso. Familienleben statt Tresenalltag: „Ich freue mich auf das, was kommt.“
Hin und wieder will Mimmo auch in der Platzgasse auf einen Prosecco vorbeischauen. Es geht nämlich weiter. Spiro Ziogas, bekannt aus dem ehemaligen Café W, übernimmt mit seiner Frau Fakiza das Espresso 29. Ändern will der 39-Jährige nicht viel, vielleicht das ein oder andere Getränk mehr auf der Karte, ein frischer Anstrich. Aber sonst? „Es wäre dumm, viel zu ändern. Schließlich lieben die Leute das, was Mimmo geschaffen hat.“
Für Ziogas, der schon lange von einer eigenen Gastronomie geträumt hat, sei nur diese Kneipe infrage gekommen: „Ich habe sofort zugeschlagen.“ So ein Laden, betont er, werde schließlich nur alle 42 Jahre frei.
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Mimmos Lokal kommt in Krimi vor
In zwei Kriminalromanen des früheren SWP-Reporters Ulrich Ritzel wird das Espresso 29 erwähnt. Dass der Wirt darin kurzerhand in Tonio umgetauft wurde, grämt Mimmo nicht. Auch das Café hat einen fiktiven Namen im Buch erhalten: „Tonios Café“.
Mimmo ist einer von vier Brüdern, die in der Stadt ihre Spuren hinterlassen haben. Ihre Namen: Franco, Lino und Tanino. Auch Franco hat mit seinem Lokal Da Franco eine gastronomische Institution in Ulm geschaffen.