Die junge Kollegin bringt Cappuccino. Die Tasse dampft, den Milchschaum hat sie mit einem Herz verziert. Extra für ihn, extra für Roger. Der Mann mit grauem Bart und blauem Hemd lächelt kurz, der Löffel liegt bereit. Umrühren? Schwierig. Das schöne Herz. Roger entscheidet sich anders. Vorsichtig führt er die Lippen zum Tassenrand. Der erste Schluck – das Herz ist heil geblieben, zum Glück. Roger lächelt erneut. Dann lehnt er sich zurück und lässt den Blick durchs Café Gustaff wandern.
Die Tische sind voll, die Kaffeemaschine brummt, die jungen Kollegen sind auf den Beinen und bedienen die Gäste. Roger kann entspannen. Er hat frei, sitzt da, redet, trinkt Cappuccino. Alles bestens, tout va bien, so könnte es immer sein.
Wobei: Eigentlich stimmt das nicht. Er hätte schon längst aufhören können mit der Arbeit. Hat er aber nicht. Er liebt das, was er tut, zu sehr. Im Lockdown wurde es besonders deutlich. Da hatte er nichts zu tun und wandelte zwischen Couch und Kühlschrank. „Was ist das für ein Leben?“, fragt er und winkt ab.
Wenn er nicht gerade freihat, steht er am liebsten in der Gustaff-Küche und kocht. Gaisburger Marsch etwa. Den hat sogar schon Ex-Fußballstar Oliver Bierhoff bei einem Ulm-Besuch verkostet und als exzellent betitelt.
„Und deine Fleischküchle“, ruft ein Stammgast an der Theke. „Die sind legendär, Roger.“ Der Gelobte lächelt erneut. Nichts geht in der Küche eben über Erfahrung – und davon hat er reichlich: Diesen Mittwoch wird Roger stolze 80 Jahre alt.
Irgendwie in Ulm gelandet
Den Roten Teppich müssen ihm die Ulmer zum Ehrentag nicht ausrollen, sagt der Koch. Sollen sie nicht, bloß nicht. Großes Tamtam mag er nämlich nicht. Ein paar Glückwünsche wird er aber schon entgegennehmen müssen, wenn er dieser Tage durch die Gassen geht.
Er ist ein bekanntes Gesicht in der Stadt. Er hat ja „schon fast überall“ gekocht: Im Kult-Nachtclub Aquarium zum Beispiel, im Ofenschlupfer, im Brettle, im Liquid. Für viele Ulmer gehört er gewissermaßen zum Gastro-Inventar ihrer Heimatstadt, sie grüßen ihren Roger auf der Straße, sie loben sein Essen, sie wissen, dass er aus Frankreich kommt, wenn er sie mit einem leisen, freundlichen „Dankö“ verabschiedet.
Aber sonst? Warum er einst nach Ulm kam? Wie er sich fit hält? Wie er eigentlich mit Nachnamen heißt? Er erzählt nicht viel – normalerweise. Doch er hat gerade Zeit und 80 Jahre sind ein guter Anlass, räumt er ein.
Roger Mouros kam in der südfranzösischen Stadt Béziers zur Welt. Knapp 80.000 Einwohner, sonnenverwöhnt, 14 Kilometer bis zum Mittelmeer. Bereits in jungen Jahren half er gern zu Hause beim Kochen mit, besonders dann, wenn es Meeresfrüchte gab – bis heute sein Leibgericht.
Das Leben war gemütlich, die Luft gut, aber irgendwann, als er etwas älter wurde, wusste er: Ich muss weg. Weg von hier, raus in die Welt. Zuerst verschlug es ihn in die Schweiz, Anfang der 70er-Jahre landete er schließlich „irgendwie in Ulm“. Von der glitzernden Welt des Aquarium angezogen, fing er dort in der Küche an – und erlebte die besten Jahre des extraordinären Lokals, das seinerzeit die Stars anzog wie das Licht die Motten: Udo Jürgens („gutes Trinkgeld“), Nana Mouskouri („nette Frau“) und so weiter und so weiter.
Höhepunkt dieser Zeit war der 7. September 1985: Da feierte Queen-Frontmann Freddie Mercury – stilecht oben ohne – seinen 39. Geburtstag im Aquarium und Roger bereitete das Essen für den Weltstar zu. Kalbsbraten, wie der Koch erzählt, mit Gemüse und Kartoffeln.
„This thing called love“, sang Mercury einst und für Roger war es wenige Jahre später so weit: Er lernte seinen Mann kennen, mit dem er bis heute zusammen ist.
Irgendwie hat es so sein sollen, meint Roger: Sein Herz hat Heimat gefunden in dieser Stadt, seine Zunge spricht Deutsch, sein Kopf denkt Deutsch. Wobei es schon etwas gedauert hat, muss er zugeben. Wörterbücher waren nie sein Ding, er redete einfach immer drauf los. Einmal schickten ihn seine Freunde zum Metzger, um Hackfleisch zu holen. „Nacktfleisch, bitte“, hauchte er über Theke, was im ganzen Laden für Gelächter sorgte.
Gymnastik und Spaziergänge
Ja, er hat die Sympathien auf seiner Seite, obwohl er durchaus auch eine Diva sein kann, wie seine Chefin und Trauzeugin Stefanie Aschoff konstatiert.
Roger widerspricht nicht. Wenn er in der Küche steht, gehöre etwas Schimpfen und Meckern dazu. Das brauche er, damit ihm das Essen gelingt. „Nur wenn ich ruhig bin“, sagt er, „wird es wirklich kritisch“.
Dass er mit 80 Jahren noch regelmäßig in der Küche stehen kann – übrigens immer mit Hemd und Schürze statt in Kochuniform, weil er die nicht mag – habe er seiner Disziplin bei der Gymnastik und seinen ausgedehnten Spaziergängen zu verdanken. Die Anlässe dafür können auch mal außergewöhnlich sein: Einmal fand er eine Ratte auf der Straße, er hatte Mitleid mit dem Tier, also fing Roger es ein und machte sich auf den Weg in den Wald, um es dort im Grünen auszusetzen.
Füße, Beine, Hände, Kopf: Sein Körper funktioniert noch ausgezeichnet und so lange das so ist, will Roger so weitermachen: spazieren gehen, im Gustaff kochen und natürlich malen – seine zweite große Leidenschaft. Neulich hat er einen Leoparden auf die Leinwand gepinselt. Majestätisch steht die Raubkatze da, um sie herum geht es bunt zu. Roger mag Farben. Sowohl beim Malen als auch beim Kochen: „Das Auge isst mit“, betont er.
Und manchmal trinkt es mit. Langsam verschwimmt das schöne Herz in der Cappuccino-Tasse, die vor ihm steht. Roger hat viel geredet, nimmt einen Schluck und schmeckt kurz hinterher.
Eine Anekdote hat er noch, gewissermaßen eine zukunftsweisende. Vor ein paar Jahren hatte das Gustaff-Team Weihnachtsfeier in einem Lokal auf dem Land. Seine Chefin stellte ihm die Köchin vor, die noch deutlich älter war als er: 92 Jahre. Für Roger steht seit diesem Moment fest: So lange möchte er auch noch machen, mindestens.
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Früher hat Ulm ihm besser gefallen
Roger Mouros kam Anfang der 70er-Jahre nach Ulm. Vieles in der Stadt hat sich seitdem verändert – nicht gerade zum Positiven, wie der Koch findet. „Ulm war früher viel attraktiver als heute“, sagt er. „Es gab mehr Lokale, mehr Boutiquen, die Stadt hatte ein deutlich schöneres Flair.“ Besonders die Hirschstraße mit Kneipen und Kino gefiel ihm. Heute, meint Roger, stören ihn vor allem die vielen Baustellen. Trotzdem lebt er nach wie vor gerne hier, betont er. Hier wohnen die Menschen, die ihm etwas bedeuten. Mit ihnen feiert er nun seinen Ehrentag. Es gibt Canapés, erzählt er, groß aufkochen will er am Festtag nicht.