Das Gebäude, in dem Beate Meinck und ihre Kolleginnen und Kollegen arbeiten, dürfte für 12 Millionen Menschen in Deutschland ein schrecklicher Ort sein. So viele Menschen gelten in der Bundesrepublik als sogenannte funktionale Analphabeten. Das heißt, sie können zwar einige wenige Wörter lesen oder etwa ihren Namen schreiben – mehr jedoch nicht. In der Reutlinger Stadtbibliothek, wo tausende Bücher auf Leserinnen und Leser warten, hätten die 750 000 Analphabeten, die es schätzungsweise in Baden-Württemberg geben soll, ein Problem: Hier fällt es ihnen schwer, ihre Schwäche zu verbergen. Das tun viele, weil sie fürchten, als „dumm“ abgestempelt zu werden. Denn wer beim Lesenlernen nicht hinterherkam, oder das Schreiben und Lesen nach der Schulzeit wieder verlernte, der schämt sich häufig dafür.
Dass Menschen, die ihre Schwierigkeiten mit dem Lesen hatten und haben, keineswegs „blöd“ sind, weiß Beate Meinck. Die 46-jährige Leiterin der Reutlinger Stadtbibliothek erklärt: „Funktionale Analphabeten legen häufig eine enorme Kreativität an den Tag, wenn es darum geht, ihre Schwäche zu verbergen“. So berichtet Meinck etwa von einem Mann, der als DJ arbeitet und mit seinem Analphabetismus zu kämpfen hatte. Doch wenn es darum ging, Platten aufzulegen, machte ihm niemand etwas vor: Er wusste, so Meinck, anhand der Plattencover, welches Lied auf welcher Platte ist, und konnte so sein Umfeld täuschen, bis er schließlich seinen Analphabetismus überwinden konnte.

Leseschwäche entsteht häufig in der Kindheit

Dabei gibt es häufig einen Grund, der bereits erwachsene funktionale Analphabeten dazu bringt, das Lesen und Schreiben zu lernen. „Dahinter steht dann oft ein einschneidendes Erlebnis, wie der Verlust des Jobs oder wenn der Partner oder die Partnerin sich getrennt hat oder gestorben ist“, sagt Meinck.
Zwar gibt es solche funktionalen Analphabeten, die erst im späteren Alter das Lesen wieder verlernen. Die Wurzel dieses Problems, das ganz gravierende Hindernisse für Menschen im privaten wie beruflichen Leben schafft, liegt allerdings häufig in der Kindheit. Wer in der Schule beim Lesenlernen nicht mitkommt und wessen Schwäche auch im Elternhaus unbemerkt bleibt, der hat unter Umständen ein Leben lang damit zu kämpfen. Häufig ist es auch so, dass solche Fälle es sogar schaffen, einen Schulabschluss zu machen – wenn auch keinen besonders guten.
In Reutlingen gab es zumindest vor der Pandemie schätzungsweise 10 000 funktionale Analphabeten. Genaue aktuelle Zahlen können weder die Stadtverwaltung noch das Landratsamt nennen – allgemein gilt jedoch die Befürchtung, dass sich durch die Monate im Lockdown und das zunehmende digitale Angebot vor allem die Zahl junger Menschen mit solchen Problemen erhöht. Davor warnen Experten: "Die soziale Selektivität wird durch die Corona-Pandemie sicher verschärft werden", sagt etwa Josef Schrader vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE).

Tipps für Eltern, wenn sich das Kind beim Lesenlernen schwertut

Wenn sich das eigene Kind im Grundschulalter verkriecht, sobald zu Hause ein Buch aufgeschlagen wird, dann ist das kein gutes Zeichen: Viele Kinder, die gerade beim Lesenlernen in der ersten Klasse den Anschluss verlieren, sollten Eltern vom Lernen des Alphabets an unterstützen. Das heißt laut der Reutlinger Bibliotheksleiterin Beate Meinck: Immer mit den Kindern zusammen lesen.
Auch ist es gut, wenn die Eltern dem Kind zeigen, dass auch sie viel lesen – egal ob am Tablet, in der Zeitung oder ganz klassisch das Buch vorm Schlafengehen. Das Kind sollte man nach täglichen Lese-Sessions stets loben, vor allem dann, wenn es ein Buch ganz alleine beendet hat. Auch gibt es spezielle Bücher für das gemeinsame Lesen, die auch in der Reutlinger Stadtbibliothek ausgeliehen werden können. Mit Abstand der wichtigste Tipp, den Meinck allerdings geben kann: „Man sollte immer das Kind entscheiden lassen, was es lesen möchte.“ Denn wenn man jungen Menschen die Wahl lässt, womit sie sich beschäftigen können, dann finden sie das von selbst heraus – und finden vielleicht auch Gefallen am Lesen.

Japanische Kunstform fördert Sprachgefühl

Meinck und ihre Kolleginnen und Kollegen an der Stadtbibliothek leisteten bereits vor der Pandemie viel für junge Leser und solche, die es noch werden wollen: etwa mit einer „literarischen Krabbelgruppe“, Autorenlesungen, zweisprachigen „Märchenreisen“ oder ganz eigenen Erzählformen wie dem Kamishibai-Theater.
Das hat seinen Ursprung in Japan: In einen Holzrahmen mit Flügeltüren können durch eine Öffnung an der Oberseite Bilder eingeschoben werden, welche die Atmosphäre der jeweiligen Szene deutlich machen. Eine Aufführung mit dem kleinen Theater soll Kindern ein besseres Sprachgefühl vermitteln und sie in die Kunst des freien Erzählens einführen.

Leselern-Paten helfen in Reutlingen

In Reutlingen helfen außerdem die sogenannten Leselern-Paten den Kindern dabei, dass aus dem Buchstabensalat vor ihrer Nase ein verständlicher Text wird. Der Verein arbeitet nach dem Eins-zu-Eins-Prinzip: Ein Pate oder eine Patin kümmert sich um ein Kind und übt mit ihm oder ihr das Lesen.
Der Verein steht genauso wie die Stadtbibliothek in engem Kontakt mit den Schulen im Reutlinger Stadtgebiet und den Stadtteilen in engem Kontakt – um so das Lesenlernen früh zu fördern und Analphabetismus zu verhindern.
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