Über ein „Thema, das die ganze Bundesrepublik umtreibt“, sprach am Mittwochabend die Grüne Bundestagsabgeordnete Beate Müller-Gemmeke auf Einladung des Grünen Ortsverbandes Mittlere Alb in der Münsinger Zehntscheuer. Gut ein Dutzend Interessierte hatten sich eingefunden, um mit der Politikerin über sozialen Frieden und Grundsicherung zu diskutieren.
Seit Herbst gebe es erstmals eine ernsthafte Debatte über soziale Absicherung, erklärte Müller-Gemmeke, und diese sei weit mehr als nur Hartz IV. Es werde viel über den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft geredet, ein Begriff, der noch nie so wichtig gewesen ist wie heute, bekräftigte Müller-Gemmeke, die seit 2009 im Bundestag sitzt und Sprecherin ihrer Fraktion für Arbeitnehmerrechte und aktive Arbeitsmarktpolitik ist. Und nur wenn der Zusammenhalt funktioniere, seien die Menschen offen für Veränderungen und würden sich sicher fühlen, Optimismus haben und bereit sein, die großen Herausforderungen zu meistern, also beispielsweise den Klimawandel und die Migration.
Der Zusammenhalt in Deutschland sei jedoch brüchig geworden. Fake News und einfache Antworten würden greifen, weil die Menschen verunsichert seien. Der Hauptgrund für diese Entwicklung sei die Tatsache, dass die Menschen das Gefühl hätten, „dass es bei uns nicht gerecht zugeht“, so Müller-Gemmeke, die Ergebnisse einer Befragung der Bertelsmann-Stiftung zitierte. Die Einkommensentwicklung sei in den vergangenen 20 Jahren extrem auseinander gedriftet, deshalb seien Veränderungen nötig.
Die Bundestagsabgeordnete hatte einige Zahlen parat: 6,3 Millionen Menschen seien Hartz IV-Empfänger, 4,3 Millionen davon „erwerbsfähig“, davon 1,6 Millionen arbeitslos. „Die Lücke dazwischen sind Menschen, die arbeiten, denen das aber nicht zum Leben reicht“, erläuterte die Abgeordnete. „Wer arbeitet, der gehört nicht ins Hartz-System“, bekräftigte sie. Ihr gehe es deshalb auch um prekäre Beschäftigung, also solche, die sehr schlecht bezahlt ist. Fast ein Viertel der Erwerbstätigen in Deutschland würden prekär arbeiten, wusste sie. Darunter seien Solo-Selbstständige, die gerade genug Geld verdienen würden, um sich über Wasser zu halten, aber nicht genug, um sich eine Altersvorsorge leisten zu können.
Prekär sei alles im Mini-Job-Bereich, der eine Falle darstelle, vor allem Frauen betreffe und aus dem schwer herauszukommen sei, weil Brutto gleich Netto sei und man einiges mehr verdienen müsse, damit sich die Mehrarbeit lohne.
Deshalb müssten Mini-Jobs sozialversicherungspflichtig sein, forderte die Politikerin. Prekär sei auch Leiharbeit, „die ungerechteste Art der Beschäftigung“. Es müsse gleichen Lohn für gleiche Arbeit geben, betonte Müller-Gemmeke, und nicht 30 Prozent weniger für die Leiharbeiter. Mit dem Mindestlohn müsse man deutlich höher kommen als 9,19 Euro, schließlich brauche jemand, der Vollzeit mit Mindestlohn arbeite, immer noch eine Aufstockung.
Hartz sei zum Schimpfwort geworden, dabei sei soziale Absicherung etwas Positives. Grünen-Vorsitzender Robert Habeck habe deshalb auch die Abschaffung von Hartz IV gefordert und die Einführung einer Garantiesicherung: „Wir Grünen loten das gerade aus“. Fest stehe aber, dass die Hartz-Regelsätze zu niedrig angesetzt seien. In den Berechnungen fehlten beispielsweise Weihnachtsbäume oder Malstifte für Kinder oder soziokulturelle Aspekte: „Ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe muss einfach möglich sein“, so Müller-Gemmeke.
Sie lehnt Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger ab: „Man kann nicht 30 Prozent unter das Existenzminimum gehen. Was wir brauchen ist ein würdiger Umgang mit Menschen in Notsituationen“. Der Staat müsse fördern und schützen, nicht Erwachsene erziehen. Müller-Gemmeke brachte das bedingungslose Grundeinkommen ins Spiel, das über eine negative Einkommenssteuer finanziert werden könne. Ihr Fazit: „Es läuft viel schief derzeit. Der prekäre Bereich muss dringend verbessert werden, damit den Menschen Mut gemacht, Politik glaubwürdiger wird.
In der Diskussion griff Andreas Jannek das Thema Mindestlohn auf. Erst bei einer Grenze von 13 Euro könne Altersarmut vermieden werden. Seinerzeit sei bei der Mindestlohn-Einführung ein Verlust von 900 000 Arbeitsplätzen prognostiziert worden, erinnerte die Abgeordnete. Tatsächlich jedoch sei in den vergangenen Jahren mehr Beschäftigung entstanden. Europaweit liege der deutsche Mindestlohn klar zu niedrig. Sie sei aber der Auffassung, dass nicht die Politik den Mindestlohn festsetzen solle, sondern die Tarifpartner, begleitet von Wissenschaftlern. In die Mindestlohngesetze müsse zudem der Schutz vor Armut aufgenommen werden.
Um die Durchsetzung des Mindestlohnes zu gewährleisten, brauche es zudem einer wirkungsvollen Finanzkontrolle des Schwarzmarktes. Die Zahl der Stellen in diesem Bereich sei auf 1600 verdoppelt worden, allerdings seien erst 600 realisiert worden. Eine verschärfte Form der Unternehmerhaftung wie in der Bau- und Fleischerbranche sei zudem für den Logistikbereich nötig.