Bluttaten, die, wie zuletzt in Ulm, an der eigenen Familie begangen werden, machen immer wieder Schlagzeilen – und wirken unerklärlich. Doch aus heiterem Himmel kommen sie nicht, wie der Ulmer Psychiater und Missbrauchsexperte Jörg Fegert erklärt. Welche Muster es gibt und auf welche Warnsignale man achten sollte. (Hinweis der Redaktion: Diese Interview wurde erstmals im Juli 2021 nach einem sogenannten Familiendrama mit zwei Toten in Ulm veröffentlicht.)

Herr Prof. Fegert, wenn Menschen ihre Familie auslöschen, wirkt das auf viele Menschen verstörend, und sie fragen sich, wie ein Mensch so etwas tun kann. Hat die Wissenschaft Antworten?

Jörg Fegert: Emotional neigen viele Menschen erstmal zur Abwehr – und sagen: Jemand, der sowas macht, muss verrückt geworden sein. Dass diese Taten aus schweren psychischen Erkrankungen entstehen, kommt vor, ist aber sehr selten. Das ist mir wichtig, zu betonen: Es gibt viele Menschen mit psychischen Belastungen in Deutschland, aber das Risiko, von einem psychisch Kranken getötet zu werden, ist minimal. Da sollte keine Stigmatisierung geschehen.

Wahre Verbrechen aus der Region – alle News, Hintergründe und Podcasts – So geht’s zur Anmeldung
Newsletter Akte Südwest True Crime
Wahre Verbrechen aus der Region – alle News, Hintergründe und Podcasts – So geht’s zur Anmeldung
Ulm

Was sind denn häufigere Ursachen für diese Taten?

Man muss sehr genau den Einzelfall betrachten. Ein häufiges Muster ist ein Dominanz-Konflikt in einer Beziehung: Der Mann hat Angst, die Kontrolle zu verlieren – weil die Frau, die bisher alles brav mitgemacht hat, plötzlich die Trennung will. Für manche Männer ist das so eine starke Kränkung, dass sie denken, die Frau hat das Recht auf das Leben und die Kinder verwirkt. Mitunter liegt auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vor. Solche Personen können bei einer massiven Kränkung zu einer Gefahr werden, für andere und für sich selbst.

Welche psychiatrischen Ursachen gibt es noch?

Selten kann in einer akuten Schizophrenie zum Beispiel eine befehlende innere Stimme zur Tötung auch von Familienmitgliedern auffordern. Häufiger sind Fälle von „erweiterten Suiziden“, bei denen etwa eine schwere Depression der Hintergrund ist, in denen junge Mütter, die keinen Ausweg mehr sehen, ihre Kinder und sich selbst zu töten versuchen. Die Ursache sind nicht selten unerkannte und unbehandelte Depressionen nach der Schwangerschaft. Prävention und frühe Hilfen für junge Mütter, die sich alleingelassen fühlen, denen alles über den Kopf wächst und die dieses Leben nicht mehr für zumutbar halten, können hier lebensrettend sein.

Wenn wir mal bei den männlichen Tätern bleiben: Wenn Wut auf die Frau der Antrieb ist, wieso werden dann auch die Kinder getötet?

Wir haben in unserer Praxis viel mit Trennungs-Konflikten zu tun. Die meisten Menschen sind in der Lage, das vernünftig zu regeln. Aber es gibt leider immer wieder Fälle, bei denen die Kinder als Hebel benutzt werden, um den Partner zu treffen. Da sitzen Sie in der Beratung daneben und merken: Die streiten sich ums Kind, aber es geht gar nicht ums Kind – das leidet nämlich extrem darunter.
Wir erleben das sogar im Krankenhaus, dass ein Kind dringend eine notwendige medizinische Behandlung braucht, aber ein Elternteil die Einwilligung nicht erteilt. Das geht dann völlig am Kindeswohl vorbei. Aber ich kann eben den Ex-Partner am stärksten treffen, indem ich ihm das Kind wegnehme oder ihm Leid zufüge. In der Extremsituation solcher Tötungsdelikte findet sich das manchmal wieder: Da wird das Kind zuerst umgebracht vor den Augen der Frau, um ihr dieses zentrale Leid zuzufügen.

Sind das geplante Taten, oder geschehen die aus dem Impuls heraus?

Manche Personen sind sehr impulsiv und können ihre Wut kaum kontrollieren. Doch es gibt auch Menschen, die das kaltblütig und geplant machen. Die kaufen sich Seile und Salzsäure und fahren zwei drei Tage damit im Auto herum, bevor sie zur Ex-Frau gehen, um die Tat zu begehen.

Von außen betrachtet kommen diese „Familiendramen“ scheinbar aus dem Nichts. Gibt es sie in allen Schichten und Milieus?

Generell würde ich sagen, dass solche Taten in allen Schichten vorkommen können. Manchmal spielt eine kulturelle Komponente hinein, wenn zum Beispiel Blutrache zur Wiederherstellung der „Ehre“ als in einer Subkultur akzeptiertes Konzept tatbegünstigend wirkt. Dass man von außen meist so wenig wahrnimmt, hat häufig mit der Dominanz-Situation in der Familie zu tun: So lange Frau und Kinder sich unterordnen, wirkt die Familie nach außen unauffällig. In der Regel werden Männer dann vom Trennungswunsch überrascht. Gerade Frauen, die Angst davor haben, dass der Mann völlig ausrastet, warten besonders lange, ihn damit zu konfrontieren. Nach außen kann das dann aussehen wie eine Explosion, aber in der Regel gibt es einen längeren Vorlauf.

Gibt es typische Anzeichen, auf die das soziale Umfeld achten sollte?

Es gibt Warnsignale bei häuslicher Gewalt: Zum Beispiel, wenn Frauen immer wieder mit Verletzungen oder blauen Flecken, die angeblich von einem Sturz stammen, beim Arzt auftauchen. Im Alltags-Umgang kann ein kontrollierendes Anherrschen, ein Befehlston auffallen, der nicht zur scheinbaren Harmonie passt. Häufig haben die Kinder ein sehr sensibles Gespür. Solche Familien werden zum Beispiel bei uns vorstellig, weil es den Kindern schlecht geht und sie Symptome einer Traumatisierung zeigen.

Und wenn es schon konkrete Drohungen gibt?

Wenn jemand konkrete Drohungen äußert, ist das sehr ernst zu nehmen. Das sollte unbedingt ein Anlass sein, sich Hilfe zu holen und etwa den Frauen-Notruf zu wählen. Es gibt da sehr erfahrenes Personal, das Hilfe vermitteln kann. Unser großes Ziel in der Prävention ist es, solche bedrohlichen Situationen zu erkennen und zu entschärfen, bevor sie eskalieren.

Sind Behörden und Helfer ausreichend sensibilisiert?

Es gibt große Fortschritte, z.B. bei der Polizei, die ja oft die ersten sind, die zu solchen Konflikten gerufen werden. Dennoch braucht es interdisziplinäre Fortbildungen wie unser E-Learning-Angebot gerade auch für Angehörige der Heilberufe und Familienrichter. Das Problem ist, dass das Thema extrem schambesetzt ist und Opfer sich scheuen, Hilfe anzunehmen.
Da heißt es für Heilberufe und Fachkräfte in der Sozialarbeit, den eigenen Wahrnehmungen zu trauen. Auch an Familiengerichten ist das Wissen um diese Extremformen der familiären Gewalt noch nicht verbreitet genug. Dies ist wichtig für den Kinderschutz, denn es gab Fälle, wo ohne konkrete Gefährdungseinschätzung entschieden wurde, der Vater muss das Recht haben, das Kind zu sehen – und der die Gelegenheit nutzte, um es umzubringen.

Es gibt eine Debatte über die korrekte Bezeichnung, gerade Begriffe wie „Familientragödie“ oder „Beziehungsdrama“ werden als verharmlosend kritisiert. Wie sehen Sie das?

In der Wissenschaft ist es sicher präziser, wenn man den Mord an einer Frau als Femizid und bei einer Kindstötung von Infantizid spricht. Ob das in der Alltagssprache oder der Zeitung so gut verstanden wird, ist die andere Frage. Wir haben bei allen Taten gegenüber Frauen historisch eine bagatellisierende Bewertung gehabt, die sich auch in der Sprache widerspiegelt. Frauen wurden früher eher als Besitz betrachtet, weniger als Menschen mit Persönlichkeitsrechten.
Etwas von diesen patriarchalischen Mustern schleppen wir heute noch mit. Laut Studien werden Vergewaltigungen von verheirateten Frauen vor Gericht schärfer bestraft als von ledigen. Da spielt wohl unbewusst noch der Gedanke mit, wenn sie einem anderen „gehört“, sei die Tat schlimmer. Deshalb sind unterschiedliche Betrachtungsweisen in der forensischen Psychiatrie oder der Kriminologie angemessen.
Ich halte die transparente Erfassung von Femiziden in der Kriminalstatistik für wichtig, um dieser Form interpersoneller Gewalt besser begegnen zu können. Ich glaube aber nicht, dass es den einen treffenden Oberbegriff oder die eine wissenschaftliche Erklärung gibt. Dazu sind die Fälle zu komplex und in der Tatentstehung zu verschieden.

Podcast „Akte Südwest“ informiert über Kriminalfälle aus der Region

Wahre Verbrechen stehen übrigens im Zentrum unserer Themenseite swp.de/crime. Hören Sie dort den Podcast „Akte Südwest“ und lesen Sie Hintergründe zu aktuellen und historischen Fällen in Baden-Württemberg – und vieles mehr.

Renommierter Experte für Missbrauch und Kinderschutz

Jörg Fegert (64) ist einer der führenden Trauma-Forscher in Deutschland und Experte für Kinderschutz und sexuellen Missbrauch. Er ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie der Universität Ulm, Präsident der deutschen Traumastiftung und Leiter des Kompetenzbereichs Prävention seelische Gesundheit im Präventionsnetzwerk Baden-Württemberg.
Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen ist bundesweit rund um die Uhr erreichbar unter: 08000 116 016. Die „Nummer gegen Kummer“ ist ein Hilfsangebot für Eltern und Kinder: unter 116111 (Kinder- und Jugendtelefon) 0800 111 0 550 (Elterntelefon).