In den vergangenen Jahren hat kaum ein Thema so viele Menschen in Deutschland dazu bewegt, zu protestieren wie die Coronaverordnungen der Bundesregierung. Auch in Albstadt gingen teils Tausende jeden Sonntag auf die Straße, um für ihre „Freiheit“, wie sie es nannten, zu kämpfen. Seit Karfreitag dieses Jahres ist mit der Maskenpflicht für Besucher in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen die letzte bundesweit geregelte Schutzmaßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus ausgelaufen. Trotzdem sieht man in Ebingen noch immer fast jeden Sonntag Menschen protestieren.

Von 2000 auf 100

Das soll auch so bleiben, sagt Petra Mayer. Die Albstädterin ist eine der Demonstranten, die fast seit Beginn der Pandemie in Ebingen auf die Straße geht. Im Dezember 2021 fand die erste Versammlung statt. Mayer ist seit etwa einem Jahr dabei. Doch die Reihen lichten sich: Waren es zu Spitzenzeiten rund 2000 Menschen, hat sich die Teilnehmerzahl in den vergangenen Wochen bei etwa 100 Stück eingependelt. Zu Ostern beispielsweise habe man die Demonstration sogar abgesagt, weil zu wenige Zeit hatten.
Während Mayer hofft, wieder mehr Menschen für die Demonstrationen gewinnen zu können, sind zahlreiche Ebinger wohl froh darüber gewesen, dass zumindest dieses Ostern Ruhe auf den Straßen war. Vergangenes Jahr störten sich einige Anwohner daran, dass an einem der höchsten Feste des christlichen Glaubens lautstark demonstriert wurde.
Warum aber gehen Mayer und viele andere noch immer auf die Straße, wenn es gar keine Corona-Einschränkungen mehr gibt? Wurde die Versammlung bislang unter dem Titel „Demonstrationszug mit gemeinschaftlichem Protest gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ angemeldet, wurde dieser mittlerweile geändert. Die Versammlung heißt nun: „Demonstrationszug mit gemeinschaftlichem Protest für die Wiederherstellung des Grundgesetzes und der Grundrechte, für Menschenrechte und gegen diese menschenverachtende Politik“.
Die Demonstranten haben sich also einen anderen Grund gesucht, Protest gegen die Regierung zu äußern. Jetzt geht es um die hohen Energiekosten, die Inflation und den Krieg, sagt Mayer. „Es wird immer schlimmer, wenn man jetzt auch noch die Atomkraftwerke abstellt.“ Die Albstädterin befürchtet weitere Kostensteigerungen im Bereich der Energieversorgung. „Wo soll ich noch sparen?“, fragt die 60-Jährige, die vergangenes Jahr kein Heizöl bestellen konnte, weil sie es sich schlichtweg nicht leisten konnte, folglich auch keine Förderung für zu hohe Kosten beantragen kann.
Deswegen geht sie weiterhin auf die Straße: „Die Politik muss uns sehen und hören.“ So auch vergangenen Sonntag, trotz Starkregens. „Wir sind friedliche Demonstranten und sind im Austausch mit der Polizei.“ Mit den Beamten sei abgesprochen worden, den „Spaziergang“ abzubrechen, wenn es hagelt.

Anwohner beklagen Lärm

Und was ist mit den Anwohnern und den Beschwerden, dass der Ebinger Westtangententunnel für die Demo gesperrt wird? Der Tunnel dient nicht als Strecke, denn Fußgänger dürfen ihn nicht nutzen. Doch mit der Sperrung soll gerade verhindert werden, dass die „Spaziergänger“ den Tunnel benutzen. Bei sonntäglichen Veranstaltungen wie dem Fischmarkt und dem zugehörigen verkaufsoffenen Sonntag wurde im Einvernehmen mit Marco Stumpp, der die Versammlungen derzeit anmeldet, eine alternative Strecke festgelegt. Das ärgert Petra Mayer jedoch: „Die Demo muss da sein, wo Menschen sind.“ Sie kann nicht verstehen, warum nicht mehr Menschen auf die Straßen gehen, und glaubt, dass sich viele nicht trauen.
„Wir werden als Querdenker beschimpft.“ Das könnte allerdings daran liegen, dass die Veranstaltung teils genau mit diesem Wort beworben wird, wie Videos zeigen. Während die Demonstranten rechtlich gesehen weiter auf der Straße protestieren dürfen, müssen sich die Anwohner der Strecke seit Jahren mit dem sonntäglichen Lärm abfinden. „Die Beschwerden über Lärmbelästigungen würde keinesfalls ein Verbot der Versammlungen rechtfertigen, zumal die Belästigungen zeitlich doch sehr begrenzt sind“, teilt die Ortspolizeibehörde zudem mit.
Und der Stadt sind beim Verlauf der Strecke die Hände gebunden. „Grundsätzlich darf sich der Versammlungsleiter die Strecke frei aussuchen. Lediglich wenn andere Rechtsgüter, die ebenfalls grundrechtlich geschützt sind, in einem erheblichen Maß beeinträchtigt werden, könnte von der Versammlungsbehörde eine andere Strecke festgelegt werden“, teilt diese mit. Allein die Tatsache, dass die Aufzüge jeden Sonntag stattfinden, gefährdet nicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung, heißt es vonseiten der zuständigen Ortspolizeibehörde.
Die Versammlungsfreiheit lässt sich also nicht so einfach einschränken. „Insoweit ist bei der Streckenführung vor allem darauf zu achten, dass Rettungszufahrten, etwa zum Krankenhaus, freigehalten und sowohl die Versammlungsteilnehmer, als auch Verkehrsteilnehmer bestmöglich geschützt werden können“, erklärt die Polizeibehörde abschließend.

Das Recht auf Versammlung

Nach Artikel 8 des Grundgesetzes haben alle Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Die Regelungen zur Versammlungsfreiheit finden sich im Versammlungsgesetz Baden-Württemberg (VersG).
Nach Paragraf 14 VersG hat derjenige, der die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstands der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden.
Das Versammlungsrecht beinhaltet auch das Recht selbst zu bestimmen, wann, wo und unter welchen Modalitäten eine Versammlung stattfinden soll. Dies gilt auch für die Auswahl der Strecke bei einem Aufzug.
Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug nur verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist (§ 15 VersG).