Das Dorf Tymoszówka liegt ungefähr 250 Kilometer südöstlich von Kiew, mitten in der Ukraine. Dort kam im Jahre 1882 der nach Frédéric Chopin wohl bedeutendste polnische Komponist auf die Welt: Karol Szymanowski, der Sohn einer Gutsbesitzerfamilie, die 1917 in den Revolutionswirren, von den Bolschewiki vertrieben, nach Warschau zog.
Wer auf die polnische Musikgeschichte schaut, findet sich in unheilvollen Zeitläuften wieder. Von welchem Polen reden wir eigentlich? Denn nachdem Russland, Preußen und Österreich das Land dreimal unter sich aufgeteilt hatten und der Rest, das Herzogtum Warschau, 1815 dem Zarenreich zugeschlagen wurde, war Polen bis 1918 als souveräner Staat von der Karte verschwunden.
Und jetzt spielt im Ulmer Stadthaus das Lutoslawski Quartett, das am Mittwoch aus Warschau angereist ist, aus einem Land, das Millionen Flüchtlinge aufnimmt, das angstvoll auf das Geschehen in der benachbarten Ukraine blickt, wo Putin einen Bombenkrieg führt, just das wunderbare 1. Streichquartett, das Szymanowski 1917 in seinem letzten Sommer in Tymoszówka komponiert hatte: eine sinnliche, ganz eigene europäische Moderne, impressionistisch verwoben. Natürlich, man hört dieses Werk in diesen Tagen anders, betroffener.
„Heiliger Dankgesang“
Mit zwei Jahren Corona-Verspätung gastierte endlich das ausgezeichnete Lutoslawski Quartett in der Reihe „klassisch!“, angeführt von der Geigerin Roksana Kwásnikowska-Stankiewicz (mit hellem, feinem Ton). Dazu Marcin Markowicz (2. Violine), Artur Rozmyslowicz (Bratsche) und in Vertretung der Cellist Tomasz Daroch – was nicht zu spüren war, denn die Polen zeigten sich als verschworenes Ensemble.
Sie traten mit einem anspruchsvollen, fordernden wie spannenden Programm auf. Gewissermaßen mit drei Kompositionen zeitgenössischer Musik, denn auch Ludwig van Beethoven gehörte 1825 mit seinem Streichquartett op. 132 allemal zur Avantgarde. Das Besondere nun im Ablauf: Das Lutoslawski Quartett begann – weit entfernt von der Haydn-Mozart-Konvention – beim jüngsten, expressiv atonalen Werk und arbeitete sich dann in die Vergangenheit vor, zu Beethoven, den das Publikum, derart eingeführt, mit ganz anderen Ohren wahrnahm.
Zunächst also das Streichquartett des Namensgebers Witold Lutoslawski von 1964, komponiert vom Polen im „aleatorischen Kontrapunkt“, den Interpreten nach dem Zufallsprinzip in Klangfeldern Freiheiten gewährend. Hirnlastige Theorie? Überhaupt nicht. Die Polen führten ein höchst sensibles „Gespräch“, boten mit skrupulösen Tönen einen Exkurs über existenzielles Musizieren aus der Stille heraus und zündeten ebenso ein spieltechnisch virtuoses Feuerwerk.
Danach mit faszinierenden Klangschattierungen der Szymanowski – und nach der Pause sehr durchdacht, mit langem Atem der Riesen-Beethoven-Brocken mit dem so außerordentlichen „Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“. Eine archaische Canzone, mit tiefer Ehrfurcht gespielt. Ein Zeichen der Hoffnung. Großer Applaus, Jubelrufe im Stadthaussaal.
Die Saison 2022/2023
Die „klassisch“-Reihe der SÜDWEST PRESSE plant für die Saison 2022/2023 wieder ein Abonnement-Programm mit fünf Abenden. Was schon feststeht: Die Schauspielerin Julia Jentsch sowie Franziska Hölscher (Violine) und Lauma Skride (Klavier) kommen zur Konzertlesung „Landschaften“ am 23. September nach Ulm. Erstmals ein Kontrabass-Recital ist am 26. Oktober zu erleben: mit ARD-Musikpreisträger Wies de Boevé. Das Signum Quartett spielt am 8. März 2023 Werke von Bach, Schubert bis Led Zeppelin. Das Busch Trio und Gäste spielen am 21. April 2023 nicht zuletzt Schuberts „Forellenquintett“ – dann heißt es: zehn Jahre „klassisch!“-Konzerte im Stadthaus.