Johannes Jaeger nimmt das Kinn aus dem Handstütz, richtet sich auf, rutscht auf dem Klappstuhl vor: „Das ist ja mal nett“, sagt der schlaksige 40-Jährige und klaubt die lilafarbenen Steine aus der Tischmitte, die der Gegenüber für ihm hat liegen lassen. Die Quadrate, die an Scheiben für Buntglasfenster erinnern, legt Jaeger auf sein Tableau, zählt ab, legt um, rückt den Siegpunkte-Zähler vor. Er schaut zufrieden den Gegenüber an. Jaeger ist bei der Arbeit.
Zwei Party-Zelte vor einem Flachdach-Bau: Dort, im hessischen Friedberg, schlägt an diesem Freitag das Herz der deutschen Brettspiel-Szene. Mögen sich der Zweckbau, der Parkplatz davor und das Hochregal-Lager nebenan von keinem Betrieb ringsum unterscheiden: Für Fans steht Pegasus 25 Jahre nach seiner Gründung für grandiose Spiele. So gewann der Verlag 2017 mit „Kingdomino“ und 2018 mit „Azul“ den Titel „Spiel des Jahres“, die weltweit bedeutenste Auszeichnung für Brettspiele.

30.000 Abonenten auf Youtube

Blogger Johannes Jaeger, in der Szene bekannt als „Hunter“, ist dieser Pressetag Pflicht. Hier treffen sich Blogger, Journalisten und Verlagsvertreter. „Hunter“ kennt hier jeder: Seinen Video-Blog, den er mit Jan Cronauer („Cron“) betreibt, zählt über 30.000 Abonnenten auf Youtube. Kein anderer deutscher Video-Brettspielrezensent sonst ist fünfstellig. Jaeger lebt seinen beruflichen Traum – nicht zum ersten Mal.
„Am Anfang wollte ich Filme machen – das Brettspiel war für mich nur Hobby“, sagt Jaeger. Er war Oberstufenschüler in Stuttgart und kam in eine filmbegeisterte Clique rein – einer davon war Jan Cronauer. Jaeger machte, was man macht, wenn man vom Job beim Film träumt: Er drehte Kurzfilme, suchte Wege in die Branche, bewarb sich für die Filmakademie in Ludwigsburg.

Mit Glück und Kung-Fu

Nach nur einem Jahr Lehramtsstudium in Stuttgart bekam er den Platz in Ludwigsburg – aber zeitgleich auch die Zusage für den Dreh von „Kampfansage“. Er entschied sich für letzteres. Der Kung-Fu-Film lief 2007 auf RTL – für Quereinsteiger-Regisseur Jaeger ein steiler Start in jene Branche, die angeblich Träume verkauft. Ein Glücksfall: Der Mittzwanziger war da, wo er sein wollte: „Filmemacher werden ist der klassische Traumberuf.“ Im Hollywood-Streifen käme jetzt der Abspann.
Doch Jaeger stand noch immer am Anfang. Der Film wurde in Berlin gedreht – dorthin zog er dann auch. Auch wenn er nochmal drei Semester studierte: Eigentlich arbeitete er weiter an der Karriere, fünf, sechs Jahre lang. Zuletzt führte er Regie bei „Terra MaX“ für den Kinderkanal. „Ein schönes Projekt.“ Doch Jaeger war nicht glücklich.

„Wie ein Goldfisch unter Haien“

Denn eigentlich brachte der Job eine Abfolge von Enttäuschungen mit sich. „Irgendwann kommt mal ein Erfolgserlebnis – aber dann geht wieder alles von vorne los.“ Es gibt viele Alpha-Tiere und er selber sei eher zurückhaltend. „Ich habe mich gefühlt wie ein Goldfisch unter Haien.“ Selbst das Publikum ist einem oft nicht wohlgesinnt. Geregeltes Leben? Familie? Gesichertes Einkommen? „Das ist inkompatibel damit, Filme zu machen.“ Der Traumjob: ein Albtraum. Was tun?
„Die Leute fragen sich viel zu sehr, was sie werden wollen – und viel zu wenig, wie sie leben wollen“, sagt Jaeger. Lebenstraum schön und gut, aber man muss ihn auch leben können. Statt sich aufzureiben, solle man überlegen, was falsch läuft. Und es braucht eine Idee, wie es über die Jahre weitergehen soll.

Genug von „World of Warcraft“

In dem Zelt sitzen alle um Tische, auch Jaeger. Vorne erklärt Redakteur Ralph Bruhn das neue Spiel „Crowns of Emara“. An den Tischen laufen Videokameras mit, Fotos werden gemacht. Die ersten Youtube-Videos werden wenige Stunden später online sein. Die Blogger, das Web 2.0 hat die analoge Brettspiel-Branche verändert und beflügelt.
Vor fünf, zehn Jahren noch zockte man an Konsole oder Computer – Cronauer und  Jaeger zog es in die „World of Warcraft“ – Tage, Nächte lang. Bis man gesättigt war. Erst entdeckte der zwei Jahre jüngere Cronauer das Brettspiel wieder neu. Er holte Jaeger dazu. Cronauer nannte sich in der Runde „Cron“, Jaeger verpasste er den Namen „Hunter“. So wurde gespielt. „Das war auch ein bisschen detox“, sagt Jaeger. „Du kannst im Brettspiel alles machen, was du im Computer kannst – aber ohne Suchtfaktor und Isolation.“

Typen, die fürs Thema brennen

Parallel hatte Jaeger ausgelotet, was man so mit Youtube machen könnte. Derweil Film und TV über Sendungskonzepte, Schauspieler und Fiktion funktioniert, ist Youtube ein Medium für reale Typen, die für etwas brennen. „Meine Überlegung war: Wenn ich mich selber vor die Kamera setze, über was würde ich reden wollen?“ Logisch: Brettspiele. Das fand „Cron“ auch. Also haben die beiden es „einfach ausprobiert“.
Den Anfang machte „Hunter & Cron“ am 25. November 2013 mit einer Rezension. Jaeger im blauen Hemd, Cronauer mit Pulloverjacke, ein Tisch vorne, eine nackte Wand hinten, der Klang hallig. Doch im Vergleich mit anderen Brettspiel-Youtubern boten sie Kamera-Präsenz, Stringenz und Witz ohne Spleen. Eben keine blutigen Anfänger im Umgang mit der Kamera. „Unser Konzept hat sofort funktioniert“, sagt Jaeger. Die Branche, die gerade voll aufblühte, habe sie „mit offenen Armen“ empfangen.
Als Vorbild dienten wie so oft Kollegen aus den USA: Der „Dice Tower“ mit 200 000 Abonnenten zeigt beispielsweise, wie man Brettspielen auf Youtube professionell aufzieht. „Hunter & Cron“ schauten sich einiges ab und probierten aus – ganze Spielerunden, Besten-Listen, Brettspiel-Nachrichten … Manches zündete, manches verwarf man, manches legte man auf Wiedervorlage und versucht es nun erneut. „Jede Woche, jeden Monat hatte ich das Gefühl, dem Ziel näher zu kommen.“
Welches Ziel? Ökonomisch gesagt: Eine Geschäftsidee zu entwickeln, von der man leben kann. Jaeger hat das Ziel dieses Jahr erreicht – wohl als erster deutscher Brettspiel-Youtuber. In der Zwischenzeit hatte er mit Zweifeln zu kämpfen. „Auch meine Frau war am Anfang alles andere als begeistert.“ Zumal der Aufbau des Kanals in die Zeit der Familien-Gründung fiel. Immerhin gab ihm der Job Flexibilität. So teilen sich Jaeger und seine Frau die Nachmittagsbetreuung beider Kinder. Dennoch: Um seinen Traum zu erfüllen, musste auch seine Familie Opfer bringen.

Finanzielle Nullnummer

Das Geld für den Kanal kommt aus vielen Quellen – Unterstützer, Werbeeinnahmen, Provisionen, Merchandise, Crowdfunding. Die eigene Brettspiel-Messe macht indes vor allem Arbeit. Zur vierten „Berlin Brettspiel Con“ (BBC) kamen dieses Jahr zwar tausende Besucher, für die Marke „Hunter & Cron“ ist das förderlich. Doch finanziell gesehen sei die Messe ein Nullsummenspiel. Jaeger setzt darauf, dass die BBC zur Institution wird – ein Weg, damit der Traumjob Perspektive hat. Kollege Cronauer ist einstweilen weiterhin Drehbuchautor. „Ich glaube, das ist sein Traumjob“, sagt Jaeger.
Die Arbeit im Hintergrund erledigt folglich Jaeger. Feedback, Anfragen, Anregungen – das E-Mail-Postfach des Duos ist jeden Tag voll. Für Jaeger ein „schönes Gefühl“. „Beim Film saß ich am losen Ende, habe immer auf Anrufe gewartet.“ Jetzt stehe er morgens auf und weiß gar nicht, wo anfangen. „Mein Traum war nie, eine ruhige Kugel zu schieben. Ich wollte mein Ding machen, das funktioniert.“ Das hat er erreicht. „Und ich freue mich jeden Tag daran.“

Baldiges Familientreffen

Draußen, auf dem Parkplatz ist es dunkel, drinnen wird weiter gespielt. Immerhin geht es um den ersten Blick auf die „Essen-Neuheiten“. Da geht so schnell kaum einer heim. Nur  zwei Wochen später, am 25. Oktober, startet die viertägige „Spiel 2018“ in Essen, die weltweit größte Brettspiele-Messe, eine „große, große Familienzusammenkunft“, so Jaeger. Und ein Treffen mit vielen Leuten, die einen ähnlichen Traum träumen.

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