Im Internet wird die streitbare Sozialdemokratin Sawsan Chebli (44) mit Hasskommentaren überhäuft. Im Interview spricht die ehemalige Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement über die Macht von Twitter und wie aus digitaler Wut körperliche Gewalt werden kann. Justiz, Polizei und Lehrer hält die ehemalige politische Beamtin auf die Herausforderungen aus dem Netz nicht ausreichend vorbereitet. Die Gesellschaft müsse mehr tun, um dem Hass im Netz die Stirn zu bieten.

Frau Chebli, im Internet schlägt Ihnen jeden Tag Hass und Hetze entgegen. Haben Sie Angst?

Nein, ich habe keine Angst. Ich würde aber sagen, dass ich heute weniger entspannt durch meine Heimatstadt Berlin laufe. Seit ich einmal mitten am Tag von einem Mann körperlich angegriffen wurde, schaue ich häufiger über die Schulter, trage selten beide Kopfhörer, um mitzubekommen, wenn sich jemand nähert. Und ich schicke der Familie immer einen Live-Standort, wenn ich abends unterwegs bin.

Wer hat Sie angegriffen?

Ein kahlköpfiger, tätowierter Mann schubste mich und sagte, ich solle mich aus Deutschland „verpissen“. Wenige Minuten später fuhr eine Frau mit einem Fahrrad ganz dicht an mir vorbei und brüllte: „Hören Sie auf! Hauen Sie ab, Frau Chebli.“ Ich hatte das Gefühl, dass die beiden sich verabredet hatten.

Hat Ihre Familie Angst um Sie?

Meine Familie wünscht sich, dass ich meinen Twitter-Account stilllege und mich nicht mehr so sehr in gesellschaftspolitische Themen einmische.

Das ist bislang nicht passiert.

Nein, denn die kämpferische Frau in mir sagt: Jetzt erst recht! In Momenten der Schwäche, der Angst und der Zweifel regt sich das kleine Mädchen, das es trotz schwieriger Verhältnisse geschafft hat. Und es geht hier ja nicht nur um mich. Leute, die gegen mich haten (hassen, Anm. d. Red.), tun es ja nicht gegen mich als Person. Es geht um die Werte, für die ich stehe; die plurale Gesellschaft, in der Frauen und Menschen mit Einwanderungsgeschichte gleiche Chancen und Rechte haben und eine echte Religionsfreiheit, die auch für Muslime gilt.

Was erleben Sie an digitaler Gewalt?

Da ist alles dabei, von Morddrohungen bis hin zu Rassismus, Sexismus und Islamfeindlichkeit, häufig kombiniert mit gezieltem Aberkennen von jeglichem Können. Das hat übrigens System. Denn mit dem Aberkennen von Können wird die Erzählung von der unqualifizierten Person, die von unseren Steuergeldern ernährt wird, weitergeführt und Hass gegen Politiker:innen geschürt. Das ist brandgefährlich. 

Geben die Hater sich mit ihren echten Namen zu erkennen?

Viel häufiger als man erwarten würde. Sie fühlen sich offenbar so sicher, dass sie ihrem Hass ohne Furcht vor Konsequenzen freien Lauf lassen. Das macht mir Sorgen. Eigentlich müsste es doch andersrum sein, eigentlich müsste ich mich sicher und vom Rechtsstaat geschützt fühlen – und nicht sie. Digitale Gewalt wird leider immer noch zu oft als Bagatelle gesehen, zu oft laufen Verfahren ins Leere und zu oft werden Hass und Hetze von der Meinungsfreiheit geschützt.

„Eine Frau bekommt mehr Hass ab als ein Mann“

Welche Rolle spielt Ihre Religion, wenn Sie angegriffen werden?

Eine entscheidende. Studien belegen, dass die Gefahr, Anfeindungen ausgesetzt zu werden, sich bei bestimmten Attributen potenziert. Eine Frau bekommt mehr Hass ab als ein Mann. Eine nichtweiße Frau bekommt mehr Hass ab als eine weiße Frau. Eine Muslima noch mehr und eine Muslima mit Kopftuch noch viel, viel mehr. Ich trage zwar kein Kopftuch, bekenne mich aber bewusst zum Islam. Studien belegen, dass antimuslimische Ressentiments weit in die Mitte unserer Gesellschaft reichen. Laut der Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration aus dem Jahr 2022 sagt ein Drittel der Befragten, dass sie es gern sehen würden, wenn die Ausübung des Islams eingeschränkt wird. Das heißt nichts anderes als: Religionsfreiheit ja, aber nicht für Muslime. Das ist krass. 

Hat Deutschland ein Rassismus-Problem?

Ja, auch wenn wir uns wegen unserer NS-Vergangenheit oft schwer damit getan haben, das einzugestehen. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war für viele, die das vorher nicht wahrhaben wollten, ein Weckruf.

Wie viele Shitstorms haben Sie erlebt?

Ich habe irgendwann aufgehört, die Shitstorms zu zählen. Aber es waren viele.

Welche Hasswellen waren die heftigsten?

Meinen ersten Shitstorm werde ich niemals vergessen. Er traf mich ohne Vorwarnung und ziemlich brutal. Ich hatte auf Facebook von einem sexistischen Vorfall berichtet und wurde dafür rassistisch, islamophob und sexistisch angegriffen. Der Rolex-Shitstorm war ein wenig anders.

Das war 2018. Sie wurden heftig dafür kritisiert, dass Sie auf einem Pressefoto aus Ihrer Zeit im Auswärtigen Amt eine teure Rolex-Uhr trugen.

Genau, und dafür wurde ich mit blindem Hass überschüttet, aber es gab auch sehr viel Zuspruch, und vor allem konnte ich bei diesem Shitstorm über ein Thema sprechen, das mich sehr beschäftigt: die Frage nach dem Zusammenhang von Herkunft und Aufstieg. Häufig ist der Werdegang der Kinder mit dem Bildungsgrad und sozialem Status der Eltern verknüpft. Arme Menschen haben in Deutschland kaum eine Chance, aus der Armut rauszukommen.

Lesen Sie alles, was im Internet über Sie geschrieben wird?

Nein. Das wäre toxisch.

Von Facebook haben Sie sich vor fünf Jahren verabschiedet. Warum?

Facebook wurde für mich immer gefährlicher. Bei den meisten Posts gab es strafrechtlich relevante Hass-Kommentare. Ich hätte den ganzen Tag damit verbringen müssen, das zur Anzeige zu bringen. Von Facebook fühlte ich mich dabei alleingelassen. Selbst volksverhetzende und strafbare Kommentare zu meinen Posts wurden nicht gelöscht. Ich wollte den Hatern nicht länger eine Plattform für ihren strafbaren Hass bieten und mich von ihnen bedrohen lassen. Darum habe ich Facebook verlassen. Ich muss nicht überall in den sozialen Medien unterwegs sein, ich muss nicht jeden Kampf kämpfen.

Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk hat dazu geführt, dass User die Plattform aus Protest verlassen haben. Haben Sie auch darüber nachgedacht?

Nein. Ich glaube nicht, dass Twitter durch den Rückzug von Einzelnen weniger relevant wird. Wir sehen ja, dass die Versuche, andere Plattformen als Alternativen aufzubauen, bisher ins Leere gelaufen sind. Es gibt leider derzeit zu Twitter keine Alternative. Doch ich möchte Twitter nicht mächtiger machen, sondern regulieren. Wenn alle Plattformen sich an Gesetze halten, Hassbotschaften und Falschinformationen löschen, dann ist dem Problem ein großes Stück abgeholfen. Noch besser wäre es, wenn wir eine europäische Plattform aufbauen würden, die nach EU-Recht operiert und am besten aus öffentlichen Geldern nach dem Vorbild der Rundfunkanstalten gefördert wird. Somit könnte man vermeiden, dass Werbegelder mit Hass verdient werden.

„Rechte Netzwerke nutzen Hate gezielt“

Stärken oder schwächen soziale Medien die Demokratie?

Die Zukunft der Demokratie – ob es uns gefällt oder nicht – wird im Internet verhandelt. Schon jetzt tauscht sich die Hälfte der Menschheit im Schnitt zweieinhalb Stunden am Tag über die sozialen Medien aus. Und wir wissen, dass rechte Kräfte das Internet viel erfolgreicher nutzen als wir Demokrat:innen. Sie haben den Raum früh erobert, können ihn viel besser nutzen und entsprechend effizienter in ihm agitieren. Fakt ist, dass rechte Netzwerke Hate gezielt nutzen, um Menschen wie mich mundtot zu machen und politische Debatten in eine bestimmte Richtung zu manipulieren.

Das klingt nicht gut...

Auf der anderen Seite haben soziale Medien eine große positive Wirkungsmacht. Ohne Twitter und andere würden wir in Deutschland wahrscheinlich wenig mitbekommen von den Frauen und Männern, die im Iran für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung kämpfen. Der Arabische Frühling wäre ohne Facebook nie so wirkmächtig geworden. Viele Protestbewegungen sind durch soziale Medien erst groß geworden. Die sozialen Netzwerke bergen eine gigantische demokratische Macht, aber auch ein gigantisches zerstörerisches Potenzial.

Was muss die Politik unternehmen, um den Hass einzudämmen?

 Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist ein wichtiger Schritt zur Regulierung von Social-Media-Plattformen und zur Bekämpfung von Hass im Netz getan worden. Aber es fehlt an der konsequenten Umsetzung. Das liegt auch daran, dass Staatsanwaltschaften mit dem Thema oft überfordert sind. Wir brauchen dringend mehr Sensibilisierung in der Justiz, aber auch bei der Polizei. Es kann nicht sein, dass wir die digitale Kommunikation vom moralischen Regelwerk des sozialen Miteinanders abtrennen. Zu viel digitaler Hass durchzieht weiterhin ungestraft das Netz und hinterlässt seine lähmende und toxische Wirkung.

Und was kann der einzelne User tun?

Ich würde mir wünschen, dass Menschen ihr Verhalten in den sozialen Medien reflektieren und erkennen, dass der Hass gegen Einzelne nicht allein die Betroffenen etwas angeht. Es geht um unsere Demokratie, um unser Zusammenleben, um unser aller Sicherheit, um unser aller Leben. Mein Buch ist ein Aufruf an die Zivilgesellschaft, die Beobachterrolle zu verlassen und sich ins Netz zu begeben. Wir müssen laut sein, einschreiten und Zivilcourage zeigen.

Viele Eltern haben Angst, wenn Ihre Kinder in den sozialen Netzwerken unterwegs sind.

 Zu Recht.

Sollte der Umgang mit Social Media in der Schule vermittelt werden?

Ja, unbedingt. Social-Media-Kompetenz ist heutzutage eine Kernkompetenz, aber Schulen haben weder die Ressourcen noch die Kompetenzen, das zu vermitteln. Eigentlich müssten die sozialen Medien Teil der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sein, aber unser Schul- und Bildungssystem ist immer noch so gestrickt, als gäbe es Social Media nicht. Lehrerinnen haben heute mit einer Schülerschaft zu tun, die in einer Sprache und in einer Welt unterwegs ist, die sie kaum kennen. Das ist ein großes Problem.

Zur Person

Sawsan Chebli wurde 1978 in West-Berlin als 12. von 13 Kindern einer geflüchteten palästinensischen Familie geboren. Ihr Vater wurde zwei Mal in den Libanon abgeschoben, kehrte jedoch nach Deutschland zurück. Deutsch lernte Chebli in der Grundschule, die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt sie mit 15 Jahren. Chebli studierte Politik und trat 2001 in die SPD ein. 2010 wurde die Muslimin Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten in der Berliner Senatsverwaltung. 2014 holte Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier sie als Vize-Sprecherin ins Auswärtige Amt. Von 2016 bis 2021 war sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagemeni. Chebli ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt in Berlin.
Mit Miriam Stein hat sie ein Buch veröffentlicht: „Laut. Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können“. Goldmann Verlag, 240 Seiten, 18 Euro.