Dass Russland völkerrechtswidrig, brutal und rücksichtslos einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, wird von kaum jemandem bestritten. Wenn es aber darum geht, ob die Putin-Diktatur allein für den Krieg verantwortlich ist, scheiden sich die Geister. In sozialen Medien oder auf Veranstaltungen alter und neuer Friedensaktivisten tauchen immer wieder gegenteilige Behauptungen auf.

Behauptung: Die NATO hat Russland provoziert.

Im Februar 1990 hatte der US-Außenminister James Baker gegenüber Michail Gorbatschow geäußert, dass „sich die gegenwärtige Militärhoheit der NATO nicht ein Zoll nach Osten ausdehnen wird“. Gorbatschow hat später klargestellt, dass sich diese Aussage ausschließlich auf die damalige DDR bezog. Allerdings hatten der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und James Baker am 2. Februar 1990 in Washington gesagt, die Nichterweiterung gelte „nicht nur in Bezug auf die DDR, sondern das gilt ganz generell“. In Vertrags­texten findet sich dergleichen nicht.
Anfang der 90er Jahre wurde über eine NATO-Mitgliedschaft Russlands diskutiert, später wurde der NATO-Russland-Rat eingerichtet. 2004 gratulierte Wladimir Putin Estland, Lettland und Litauen zum Beitritt und erklärte: „Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation.“

Behauptung: Der Euromaidan war ein Putsch.

Am 21. November 2013 begannen auf dem Kiewer Maidan (eigentlich: Maidan Nesaleschnosti – Platz der Unabhängigkeit) Proteste, weil sich Präsident Wiktor Janukowytsch weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Die tiefere Ursache war nach Ansicht der Osteuropaexpertin Gwendolyn Sasse „die weitverbreitete Frustration über ein korruptes und autoritäres Regime“. Es kam zu schweren Zusammenstößen mit über 100 Toten und 1000 Verletzten. Das Auftreten rechtsnationalistischer Gruppen dient bis heute dem Kreml als Vorwand, gegen „Faschisten“ zu kämpfen. Am 22. Februar 2014 verließ Janukowytsch, der den Rückhalt in den eigenen Reihen und bei den Sicherheitskräften verloren hatte, das Land. Das Parlament in Kiew wählte eine neue Regierung und einen Übergangspräsidenten. Russland reagierte unter anderem mit der Krim-Annexion.

Behauptung: Die russischsprachige Bevölkerung im Donbass war Opfer eines Genozids.

Die selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk entstanden durch den bewaffneten Kampf von Separatisten, die sich militärisch nur durch massive russische Unterstützung halten konnten. Seit 2014 tobte im Osten der Ukraine ein Krieg, den auch Abkommen nicht stoppen konnten. „Minsk II“ wurde 2015 von Russland, der Ukraine, Deutschland und Frankreich unterzeichnet. In der Folge gingen die kriegerischen Handlungen stark zurück, hörten aber nie ganz auf.
Heiko Pleines, Osteuropawissenschaftler an der Uni Bremen, kam zu dem Schluss, es sei „offensichtlich“, dass Russland „weder freien Wahlen (in den ‚Volksrepubliken‘), die seinen Einfluss gefährden könnten, noch einem Ende seiner – offiziell nichtexistierenden – militärischen Unterstützung zustimmen wird“. Bei den Kämpfen mit dem ukrainischen Militär wurde von beiden Seiten massiv Gewalt angewendet. Aber weder die UNO noch die OECD fanden Hinweise für einen Genozid an der Russisch sprechenden Bevölkerung. Völkerrechtlich gehören die umkämpften Gebiete eindeutig zur Ukraine.

Behauptung: Die USA und Großbritannien haben einen Waffenstillstand verhindert.

In einem Interview hatte der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennett berichtet, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihn im März 2022 um Vermittlung gebeten. Er habe dann tatsächlich bei Putin angerufen, wobei die westlichen Staatschefs, auch Kanzler Olaf Scholz, informiert wurden. Angeblich habe Putin auf eine vollständige Entmilitarisierung, auf eine „Denazifizierung“ der Ukraine und auf die Tötung Selenskyjs verzichten wollen. Die Ukraine wäre bereit gewesen, den Wunsch auf NATO-Mitgliedschaft aufzugeben, hätte aber Sicherheitsgarantien seitens der USA verlangt. Laut Bennet seien Olaf Scholz und der französische Präsident Macron eher für einen Waffenstillstand, der damalige britische Premier Boris Johnson dagegen gewesen. US-Präsident Biden konnte wohl beiden Seiten etwas abgewinnen. Es gab gleichzeitig offizielle Waffenstillstandsverhandlungen. Nachdem aber das Massaker von Butscha bekannt wurde, gab es keine Gespräche mehr.

Behauptung: Kiew verweigert Friedensverhandlungen.

Im November des vergangenen Jahres hat die Ukraine beim G20-Gipfel eine aus zehn Punkten bestehende „Friedensformel“ vorgelegt. Dazu gehören der vollständige Abzug der russischen Truppen, Reparationszahlungen und ein internationales Tribunal. „Es versteht sich von selbst, dass wir zu diesen Bedingungen mit niemandem reden werden“, erklärte darauf Russlands Außenminister Sergej Lawrow. Präsident Selenskyj hat im vergangenen September Gespräche mit Wladimir Putin per Dekret verboten.

Behauptung: Die Sanktionen gegen Russland wirken nicht.

„Wirtschaftsindikatoren zeigen, dass die verhängten restriktiven Maßnahmen Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben“, heißt es offiziell von EU-Seite. Als Beleg dienen Zahlen der Weltbank, des IWF und der OECD. Danach ist das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2022 „im Best-Case-Szenario um mindestens 2,2 % und im Worst-Case-Szenario um bis zu 3,9 % zurückgegangen“.
Fakt ist auch, die russische Wirtschaft war widerstandsfähiger als erwartet. Das könnte sich aber bald ändern. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln gibt Russland 14 Prozent seines Gesamthaushaltes für die innere und äußere Sicherheit aus. Auf vielen anderen Gebieten, auch bei der Wirtschaftsförderung, sinken die Ausgaben. Und: Die Abkoppelung des Westens von russischem Öl, Gas und russischer Kohle wird dauerhafte Folgen haben. Die Preise für Öl und Gas fallen derzeit, die Verluste in Westeuropa sind nicht so ohne weiteres anderswo, etwa in China, wettzumachen. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) sind die Öl- und Gasexporte Russlands seit Beginn des Krieges um 40 Prozent zurückgegangen. „Ein Jahr nach Beginn des Krieges hat Putin den Energie­krieg verloren“, konstatiert die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Die Toten des Krieges

Um es klar zu sagen: Verlässliche Zahlen zu den Toten gibt es nicht. Die Ukraine meldet zum Beispiel, dass bis Anfang Februar 135 000 russische Soldaten gestorben seien, dazu bis Dezember 13 000 eigene Kämpfer. Russland geht von 6000 eigenen und 61 000 ukrainischen toten Soldaten aus. Laut dem Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General Christopher Cavoli sind 200 000 russische Soldaten getötet oder verwundet worden. Nach Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (OHCHR) gab es bis zum 5. März 2023 mindestens 8173 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung, darunter mindestens 492 Kinder.