Lieber Buch oder lieber Tablet? In einer gemeinsamen Erklärung weisen 130 Forscher darauf hin, dass das nicht egal ist. Doch auch wer die Digitalisierung am liebsten sofort beenden würde, bekommt von den Wissenschaftlern keinen Rückenwind. Sie plädieren für Behutsamkeit.
Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) nimmt es ganz pragmatisch. Je nach Situation greift sie mal zum Buch, mal zum Tabletcomputer. Zu Hause in Ibbenbüren liest sie ihre Zeitung gedruckt, längere Texte im Auto gern auch mal am Bildschirm. „Das hat damit zu tun, dass ich sehr viel unterwegs bin“, sagt Karliczek. Doch ist es wirklich egal, ob Texte gedruckt oder digitalisiert gelesen werden?
Die Leseforschung glaubt das im Moment nicht. In der Stavanger-Erklärung, die von mehr als 130 Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, stellt sie fest, dass es fürs Verständnis und Erinnern einen Unterschied macht, ob auf Papier oder am Bildschirm gelesen wird. Das geht aus einer Metastudie hervor, für die Untersuchungen mit insgesamt 170 000 Teilnehmern analysiert wurden. Ergebnis: Fakten aus langen Informationstexten prägen sich besser ein, wenn der Text gedruckt gelesen wurde. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich bewusst machen, dass „der rasche und wahllose Ersatz“ von Papier und Stift nicht folgenlos bleibt.
Die Ursache dafür ist das „Lesen mit dem ganzen Körper“. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass nicht nur Auge und Hirn sondern auch die Körperhaltung und das Haptische eines Buches eine Rolle spielen für das Leseverständnis. Papier kann man zurückblättern. Man erahnt anhand des Gewichts in der Hand, wieviel Buch noch vor einem liegt. Oft erinnert sich der Leser sogar daran, an welchem Ort auf einer Seite er eine bestimmte Information gefunden hat. Wetten, dass Sie – als Leser dieses Artikels – sich merken, dass dieser Satz in der zweiten Spalte des Artikels ziemlich weit oben gestanden hat? Am Bildschirm fehlt diese Orientierung. „Dieser Faktor wird von Lesern, Erziehern und sogar Forschern unterschätzt“, heißt es in der Stavanger-Erklärung.

Texte sind sehr schnell verfügbar

Ein Grund zur Panik ist das nicht. Vielmehr wäre es überraschend, wenn die Digitalisierung keinen Einfluss aufs Lesen hätte. Sie ist der größte Umbruch, den die Kulturtechnik in den mehr als 5000 Jahren ihrer Existenz durchmacht. Wohl noch nie wurde so viel gelesen wie heute. Noch nie waren Texte so schnell verfügbar. Und noch nie haben Menschen einander so viele schriftliche Nachrichten geschickt wie jetzt. Das Schreiben mag Opfer der Digitalisierung werden. Das Lesen wird es sicher nicht.
Und ganz so schnell geht es mit der Digitalisierung sowieso nicht – vor allem nicht in Deutschland: Die Schulen warten seit Jahren auf Mittel aus dem Digitalpakt für ihre Infrastruktur. Auch die Büros der Hauptstadt sind noch längst nicht papierlos. Erst vor Kurzem hat eine FDP-Anfrage ergeben, dass allein Regierung und Bundesbehörden im Jahr 2017 mehr als 1,2 Milliarden Blatt Papier verbraucht haben. Da hilft es nur wenig, dass die Bildungsministerin zum Tablet greift.
Nicht einmal bei den E-Books geht es so richtig voran. Seit 2013 stagniert der Anteil von E-Books am gesamten Buchmarkt bei unter fünf Prozent – und das, obwohl die Preise für E-Books seit Jahren kontinuierlich sinken.
Dabei haben gerade handliche Geräte wie E-Reader und Tablets die Möglichkeit, das „Lesen mit dem ganzen Körper“ in die Welt des digitalen Lesens zu überführen. Leseforscherin Yvonne Kammerer (siehe auch Interview) weist darauf hin, dass gerade solche Geräte das Haptische wieder zurückholen. „Man kann zoomen, man kann Dinge mit den Fingern verschieben. Und es gibt Hinweise, dass sich die Nähe zwischen der Hand und dem Gelesenen positiv auf das Verständnis auswirken kann.“ Bei den wenigen Studien, die es gibt, wurde im Vergleich zum Lesen auf Papier kein Unterschied im Verständnis informativer Texte festgestellt. „Das ist ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass das Lesen auf einem digitalen Gerät unter bestimmten Bedingungen doch gleich gut sein kann wie auf Papier“, sagt Kammerer.
Doch egal ob ein Text ausgedruckt oder digital vorliegt: Um ihn zu verstehen, muss der Leser erst einmal lesen können. Und da sind neben den Lehrern auch die Eltern gefragt. Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf, die sich mit Chancen und Gefahren digitalen Lesens beschäftigt, gibt Müttern und Vätern einen ganz einfachen Tipp: „Sorgen Sie für ein Haus voller Bücher!“