Die Frau saß weinend in ihrem Krankenbett, in der Hand ein Foto ihres einjährigen Kindes. Sie hatte gerade erfahren, dass ihr Krebs metastasiert hat. Ihr Mann kauerte neben ihr, auch er verzweifelt. „Was wird aus unserem Sohn?“, fragte die Frau. „Wie soll es weitergehen?“
„Ich hatte gehofft, ihr etwas sagen zu können. Irgendeine Idee zu haben“, erinnert sich Dr. Sarah Krämer an die bedrückende Szene im Krankenbett des Ulmer Uniklinikums. „Aber die hatte ich nicht. Ich konnte ihr nichts raten, nichts mitgeben.“ Das war an einem Freitag. Am Wochenende führte die Ärztin Gespräche, dachte nach und recherchierte, um der Frau am Montag einen Halt, eine Aussicht geben zu können. Da kam ihr ein Gedanke.
So entstand die „Ulmer Schatzkiste“, die Krämer mit Dr. Klaus Hönig Wirklichkeit werden lässt. Krämer macht am Uniklikum die Facharztausbildung für psychosomatische Medizin, der Psychoonkologe Hönig ist Leiter der Ulmer Krebsberatungsstelle. Es geht ihnen um Menschen, die kleinere Kinder haben und an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung leiden. Sie sollen in einer fürsorglichen Atmosphäre ihre wichtigsten Gedanken, Botschaften und Erinnerungen kreativ in einem eigenen Film festhalten können. Im „Film ihres Lebens“.

„Was bleibt, wenn ich gehe?“

„Jeder stellt sich die Frage: Was bleibt, wenn ich gehe? Werden sich meine Kinder an mich erinnern?“, sagt Krämer. Schmerzhafte, aber unausweichliche Fragen. Denn das autobiografische Gedächtnis vermag Erinnerungen bis zum Ende des vierten Lebensjahres nicht dauerhaft zu speichern. „Das macht es Kleinkindern fast unmöglich, Erlebnisse mit ihren früh verstorbenen Eltern im Gedächtnis zu behalten.“
Rund eine halbe Million Menschen erkrankt in Deutschland jährlich an Krebs, 37 000 davon haben minderjährige Kinder. Jeden Tag sind also 100 junge Eltern betroffen. „Der Bedarf ist da“, ist Hönig sicher. Die Patienten werden über den psychoonkologischen Konsildienst der Uniklinik und die Krebsberatungsstelle Ulm angesprochen.
„Die Menschen bewahren so ihre einzigartige Lebensgeschichte wie in einer Schatzkiste auf“, erläutert Krämer das Vorhaben. Sie können Anekdoten und Erfahrungen, vielleicht auch Wünsche und Ratschläge weitergeben, Lieblingslieder oder Trost für einsame Stunden. Aber weil es ein Film ist, können sie das als der Mensch tun, der sie sind, mit ihren Eigenheiten, mit ihrer Mimik, ihren Blicken, ihrer Stimme, ihrem Lachen. Mit ihrer Persönlichkeit. „Als Mutter finde ich den Gedanken schön, die Chance zu haben, all das direkt zu erzählen“, sagt Krämer.

Eine Stylistin ist mit dabei

Ein multiprofessionelles Team wird dafür ein Gespräch filmen, schneiden, eventuell mit Kommentaren, Musik, Fotos und Videosequenzen anreichern: eine lebensnahe Hinterlassenschaft. Die Menschen sollen sich beim Filmen wohl und schön fühlen, daher wird ihnen eine Stylistin von Friseur Befurt zur Seite stehen. Auch eine Fotografin von Photoart Hund ist dabei. Zwei Tage wird so ein Dreh dauern, aber mit einem Ruhetag dazwischen – und die Patienten werden während der ganzen Zeit von einer Psychoonkologin begleitet.
Denn dabei könnte bei den Todkranken vieles hochkommen: eigene Bedürfnisse, offene Fragen. „Wir Menschen schauen nicht so gern ans Lebensende“, sagt Hönig, „aber es ist ein wertvoller Blick. Er ist fruchtbar.“ Denn man erkennt: Was will man noch verwirklichen, was noch erledigen? Was sollte noch geklärt oder zumindest ausgesprochen werden? Die Idee basiert auf dem Konzept der „Würde erhaltenden Therapie“. Und davon haben beide etwas, Eltern und Kinder.

Für besondere Momente

Am Ende halten die Menschen einen Stick in der Hand: mit dem 45 bis 60 Minuten langen Film, mit professionellen Fotos, aber vielleicht auch mit Botschaften für besondere Momente im künftigen Leben der Kinder: zum 18. Geburtstag oder für den ersten Liebeskummer. „Es gibt doch immer wieder Augenblicke“, sagt Krämer, „in denen man sich die Eltern an der Seite wünscht.“
Bereits im Planungsstadium ist das Vorhaben mehrfach ausgezeichnet worden, etwa von der Bezirksärztekammer Süd-Württemberg. Im Februar oder März wird der erste Dreh stattfinden. Fünf Patientinnen oder Patienten sollen dann pro Jahr den „Film ihres Lebens“ drehen.
Für Sarah Krämer ist es eine schöne Vorstellung, dass Kinder, wenn sie älter sind, „vom Leben ihrer Eltern aus erster Hand erfahren, hören, sehen“. Bewegte bewegende Bilder. Es werden ganz persönliche Erinnerungen und Emotionen sein, die diese Ulmer Schatzkisten so wertvoll machen werden: als Trost, als Stärkung, als Bereicherung. Als Verbindung über den Tod hinaus.

Für die Patienten ist es kostenlos

Finanzen Die „Ulmer Schatzkiste“ ist eine Initiative der Universitätsklinik Ulm und ein Projekt der Krebsberatungsstelle. Sie wird für die Patientinnen und Patienten kostenlos sein und über Spenden, eventuell auch über Stiftungen finanziert werden. Da Projekt wird zudem wissenschaftlich evaluiert. Ein Image-Film, mehr Infos und Kontakt: www.ulmer-schatzkiste.de