Frau F. sitzt auf ihrem Bett im Anna-Stift, blickt einen vif an, und schüttelt kaum merklich den Kopf. Also dass sich nun sogar die Presse für sie interessiert, hält die 87-Jährige für übertrieben. Sie hat eben einen kleinen Ausflug gemacht. Ach was, sie hat einen tollen Ausflug gemacht und einen unterhaltsamen Abend verbracht. Deshalb so viel Aufregung? „Ich habe nicht empfunden, vermisst zu werden.“
Vermutlich hätte sich Frau F. mehr  aufgeregt, wenn sie am ersten Februarwochenende mal kurz im Seniorenheim in der Zeitblomstraße vorbeigeschaut hätte, wo sie seit November wohnt. Dort war gewissermaßen die Hölle los. Erst durchkämmte das Personal das Haus Zimmer für Zimmer, dann die Polizei – vom Dachgeschoss bis in den entlegensten Kellerwinkel. Erst am Freitag, dann nochmal am Samstag. Und die gesamte Umgebung gleich mit. Sechs Streifenwagen  parkten vorm Anna-Stift, irgendwann marschierte eine komplette Rettungshundestaffel auf, währenddessen ein Polizeihubschrauber über der Ulmer Neustadt und dem Michelsberg kreiste. „Ich bin jetzt seit 30 Jahren hier, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt Heimleiter Robert Kiesinger.
Gegen 14 Uhr am Freitagnachmittag hatte sich Frau F. mit ihrem Rollator trittsicher von dannen gemacht. Ein Leichtes für sie, zumal das Anna-Stift eine offene Einrichtung ist. „Wir haben eine Aufsichtspflicht, aber wir halten hier niemanden fest“, sagt Kiesinger.  Doch nachdem ihr Fehlen bemerkt worden war, wuchs die Sorge. Zum einen, weil Frau F. trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt bloß mit einem Pullover bekleidet war. Zum anderen, weil sie an Demenz leidet. Auch wenn man ihr das nicht anmerkt, weil sie einem so wach, so freundlich, so eloquent begegnet.
Während also Polizei und Rettungskräfte halb Ulm auf den Kopf stellten und selbst die Kollegen im 792 Kilometer entfernten Kiel  alarmiert waren – dort wohnt F.’s einzige noch lebende Verwandte, und es hätte ja durchaus sein können, dass sie sich, wie auch immer, auf den Weg dorthin gemacht hat – war die Gesuchte nicht weit: Gegen 19 Uhr stand sie vor dem Asia-Imbiss Q 1 am Münsterplatz und fragte Inhaberin Thanhhai Nguyen, wo denn das nächste Hotel sei. Die Vietnamesin wies ihr den Weg. Und wunderte sich, als die alte Dame gegen 21 Uhr erneut vor dem Restaurant auftauchte. „Haben Sie kein Hotel gefunden?“ Schon, antwortete, Frau F., aber es sei ihr zu teuer gewesen. Ob  es in Ulm nichts Günstigeres gebe, mehr als 50 Euro könne sie leider nicht ausgeben.
Es entspann sich ein nettes Gespräch, in dem F. der sich gerade auf den Heimweg machenden Nguyen eine durchaus glaubhafte Geschichte auftischte. Mit dem Bus sei sie am Nachmittag aus Norddeutschland gekommen, um ihre geliebte Stadt Ulm zu besuchen, in der sie bis zur Rente gearbeitet habe. Und weil die Vietnamesin das Herz auf dem rechten Fleck hat, lud sie die „nette Oma“ mit den langen weißen Haaren spontan zu sich nach Hause ein – nach Nersingen, wo Nguyen mit ihrer Familie wohnt.

Bekannt wie ein bunter Hund

„Ich habe mich nicht angeboten. Sie hat mich eingeladen und ich war schon immer kontaktfreudig“, sagt Frau F. rückblickend. Was länger zurückliegende Zeiträume betrifft, funktioniert ihr Gedächtnis 1A. Sie erzählt von ihrer Kindheit bei Lüneburg, wo sie schon als kleines Mädel im elterlichen Laden gestanden und mitgeholfen habe. Und von ihrer späteren Zeit in Ulm, wo sie 18 Jahre in der Porzellanabteilung eines großen Geschäfts arbeitete. „Ich bin in Ulm bekannt wie ein bunter Hund“, sagt sie, und bittet um Wahrung ihrer Anonymität.
Bei Familie Nguyen wurde es ein bunter Abend, erzählt die 47-jährige Gastronomin. Man aß gemeinsam, zum Nachtisch gab es frische Mango, F. plauderte fröhlich aus ihrem Leben.  Keine Sekunde habe sie geargwöhnt, dass mit der Frau etwas nicht stimmen könnte, „dass die Oma vergesslich ist“, wie Thanhhai Nguyen es ausdrückt. Erst nach Mitternacht bezog sie das Gästebett und am nächsten Morgen nahm sie die 87-Jährige wieder mit ins Q1, um sie später, so hatte sie es zumindest vor, zum Bahnhof zu bringen. „Aber erst mal hatte ich sehr viel zu tun, ich konnte  mich nicht um die Frau kümmern.“
Es war ein Gast, der Nguyen auf das merkwürdige Verhalten der mit ihm am Tisch sitzenden Frau F. ansprach. Ständig habe sie etwas aus ihrer Handtasche geholt und es sogleich wieder eingepackt. Man wisse ja nie, vielleicht sei es besser, die Polizei zu informieren. Die Beamten waren ob der Personenbeschreibung im Bilde, holten F. im Imbiss ab und brachten sie ins Anna-Stift.
Temporäre Aussetzer sind typisch für eine beginnende Demenz, sagt der Heimleiter. „Man merkt es den Menschen nicht gleich an.“ Schon als sie noch in ihrer eigenen Wohnung in Ulm wohnte, sei F. immer wieder von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht worden. Im vergangenen Herbst sei die Heimunterbringung notwendig geworden. Frau F. hat diese Entscheidung mit ihrer gesetzlichen Betreuerin getroffen.
Sie fühle sich wohl im Anna-Stift, sagt die 87-Jährige, die in einem Zweibett-Zimmer lebt.  „Alle sind hilfsbereit.“ Aber der Ausflug, der sei besonders schön gewesen. An Details kann sie sich leider nicht mehr erinnern. „Aber beim nächsten Mal sag’ ich vorher Bescheid.“

In Ulm etwa 50 vermisst gemeldete Senioren pro Jahr

Risikobewertung Im Schnitt alle 14 Tage verschwindet in Ulm ein älterer Mensch aus eigenem Antrieb aus einer Senioreneinrichtung oder auch von Zuhause, teilt ein Sprecher des Polizeipräsidiums Ulm auf Anfrage mit. Oft, aber beileibe nicht immer, handele es sich dabei um Demenzpatienten. Geht eine Vermisstenmeldung ein, unternimmt die Polizei zunächst eine Risikobewertung. Wie ist der gesundheitliche Zustand des Vermissten, braucht er oder sie Medikamente? Wie ist die Witterung, ist die Person adäquat angezogen?
Rettungseinsatz Nach dem Ergebnis der Risikobewertung richtet sich die Intensität des Rettungseinsatzes, etwa die Frage, ob neben Streifen auch Hundestaffeln oder ein Suchhubschrauber mit Wärmebildkamera eingesetzt werden. Die Erfolgsquote ist hoch, sagt der Polizeisprecher. Fast alle Vermissten werden schnell gefunden und zurückgebracht.