Tür auf, Tür zu. Wieder kommt einer der Schüler rein in den Raum der Willkommensklasse an der Waldorfschule Römerstraße, alles sechs- und siebenjährige Kinder aus nicht deutschsprachigen Ländern. Das pünktliche Ankommen ist jeden Tag ein Thema, sagt Klassenlehrerin Katja Schänzle. Unterrichtsbeginn ist an der Privatschule um 7.45 Uhr, gegen 8.30 Uhr wird sich an diesem Tag die letzte Schülerin in die Gruppe reinschummeln. Dabei weise Schänzle jeden Tag darauf hin, dass es pünktlich losgeht. Sind alle da, dann sind es zwölf Kinder und zwar aus sieben Nationen, wie dem Irak und Afghanistan oder Kroatien.
Kurz nach 8 Uhr beginnt Schänzle mit einem Singspiel: „Ich rufe in die Runde, wer gibt mir heute kunde?“ Die Kinder werfen sich Sandsäckchen zu, jedes sagt wie es heißt. Mancher flüstert, andere rasseln den Namen flugs runter, Deutsch ist offenbar noch fremd. Als Schänzle fragt, was gestern für ein Tag war, antwortet Edris „übervorgestern“. Anlass für Schänzle, die Wochentage abzufragen. „Heute ist Freitag, was für ein Tag ist morgen?“, fragt sie. „Dienstag“, antwortet Fawzy.
Rituale stabilisieren
Tür auf, Tür zu, ein Junge kommt rein, setzt sich auf einen Platz und macht sofort mit. Schänzle schimpft nicht, sie begrüßt kurz das Kind und macht weiter. Die „Schreibstube“ hat eröffnet. „Wer darf heute die Kerze anzünden?“, fragt sie. Die Klassenlehrerin setzt auf Rituale, die ständig wiederholt werden. Für die Willkommensklasse sei das umso wichtiger, denn Rituale sollen Sicherheit geben. „Das stabilisert sie“, ist Schänzle überzeugt.
Das Konzept, wie dort mit Flüchtlingen gelernt wird, hat sie schon im Mai 2015 mit entwickelt. „Die Lehrer haben berücksichtigt, dass die Kinder aus einer speziellen Situation kommen“, schildert Hartmut Semar, Geschäftsführer der Schule. Nämlich, dass manche traumatisiert sind. „Es braucht für alles Geduld“, ist denn auch fast Schänzles Mantra. Semar: „Nach den Sommerferien waren die Flüchtlinge da.“ Zugewiesen vom Staatlichen Schulamt Biberach.
„Aufnehmen, Raum bieten, Deutsch beibringen“, beschreibt Semar das Konzept, das vorsieht, dass immer zwei Lehrer in der Willkommensklasse sind. Aktuell unterrichtet dort neben Schänzle Klassenhelferin Sabine Kühn. An anderen Waldorfschulen würden laut Semar Flüchtlingskinder gleich in jenen Klassen lernen, in die sie altersmäßig gehören.
Der Besuch einer Waldorfschule kostet Geld, der höchste Beitrag liegt bei monatlich 430 Euro. Wie sollen Flüchtlingskinder das aufbringen? Gar nicht. „Wir wollten alle helfen“, schildert Oliver Haug, einst selbst Schüler der Schule, heute Unternehmer und Vater von drei Kinder, die alle die Waldorfschule besuchen. Ihm ging es darum, Verantwortung zu übernehmen und zwar „Verantwortung für die Schüler“, sagt er.
Haug kam auf die Idee, Firmen um Spenden zu bitten, entwarf dazu eine Website. Eine seiner Kolleginnen rief regionale Firmen an und schilderte die Situation. Die Werbung um Patenschaften, pro Kind für 1200 Euro im Jahr, verlief erfolgreich. Wobei es Haug wie Semar wichtig ist zu betonen, dass die Finanzierung vom Haushalt der Schule getrennt wurde. Kritische Stimmen zur Willkommensklasse habe es von Eltern durchaus gegeben.
Die Schüler der Willkommensklassen werden nach dem ersten Jahr in jene Klassen integriert, in die sie gehören. Mit der aktuellen Willkommensklasse wird es etwas anders sein, denn laut Semar gibt es keine Zuweisung für Flüchtlingsschüler. Da die einzügige Waldorfschule in diesem Jahr viele Anmeldungen hatte, kam man dort auf diese Idee: Eltern, die ihre Kinder an der Schule angemeldet haben, konnten wählen zwischen der üblichen ersten Klasse, in der bis zu 32 Schüler lernen, oder der neuen interkulturellen Klasse. Dort werden zehn Kinder der Willkommensklasse lernen und acht hiesige Kinder. „Unsere Kinder freuen sich auf die deutschen Kinder“, sagt Schänzle.
Entwicklung der Flüchtlingsklassen
163 Kinder an Grundschulen und 165 Kinder an weiterführenden Schulen haben in Vorbereitungsklassen, auch Willkommensklassen genannt, an staatlichen Schulen in Ulm im Oktober 2015 gelernt. Diese Zahlen nennt Gerhard Semler, Leiter der Abteilung Bildung und Sport der Stadt Ulm.
157 Kinder an Grundschulen und 121 Kinder an weiterführenden Schulen waren es hingegen im Juni 2018, die in den Vorbereitungsklassen lernten. Über die Situation der Flüchtlinge sagt er: „Es ist nicht so, dass niemand mehr kommt.“
441 Geflüchtete haben zum Höchststand im Juni 2017 in den Vorbereitungsklassen Arbeit/Beruf an beruflichen Schulen in Ulm gelernt. Zum Vergleich: Derzeit sind das 131 Schüler.