Beim Kinderschutzbund Ulm/Neu-Ulm wurden im vergangenem Jahr 203 Kinder vorgestellt, die Gewalt erlebt haben – und 95, die sexuell missbraucht wurden. Diese Zahlen nennt Bettina Müller, Leiterin der psychologischen Beratungsstelle in der Einrichtung. Was der Kinderschutzbund tun kann? Den jungen Opfern einen geschützten Raum und das Gefühl geben, dass man ihnen glaubt und sie ernst nimmt, sagt die Psychologin.

Frau Müller, Frau Kroggel. Fachleute schätzen, dass in jeder Grundschulklasse mindestens ein bis zwei Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Das klingt unfassbar.

Bettina Müller: Das ist es auch.

Ein bis zwei Kinder pro Klasse. Ist dem so?

Müller: Ja, das ist auch unsere Erfahrung. Die Dunkelziffer, also Fälle, die nicht ans Tageslicht kommen, ist sehr hoch.

Woran liegt das?

Müller: Das ist schwer zu sagen. Mitunter ist die Hemmschwelle groß, Hilfe zu suchen, wenn ein Verdacht besteht. Eltern können vieles schwer einordnen.

Wie gelangen Missbräuche ans Tageslicht?

Müller: In aller Regel rufen Erwachsene bei uns an. Ein Beispiel: Das ist die Mutter, die anruft, weil ihr Kind etwas erzählt hat, was sie verunsichert und nicht einordnen kann. Wir können helfen, die Situation und das Gesagte zu deuten und einzuschätzen. Wobei sich die Anrufer natürlich Entwarnung erhoffen.

Die Sie aber häufig nicht geben können.

Müller: Leider nein. Wenn ein Mädchen seiner Mutter beispielsweise berichtet, dass der Papa einen Penis hat, den er hoch und runter fahren kann, dann muss man hellhörig werden. Denn Kinder im Kita- und Grundschulalter lügen da nicht, weil sie üblicherweise keine Erfahrungen mit erwachsener Sexualität haben.

Und was geschieht dann?

Müller: Wir sprechen mit den Erwachsenen, die sich mit dem Verdacht an uns gewandt haben. Der Verdacht auf sexuelle Gewalt löst heftige Reaktionen bei allen in der Familie aus. Für uns steht jetzt der Schutz des Kindes an erster Stelle. Wir beraten die Familien, was sie jetzt tun können.

Kürzlich ist ein Mann aus dem Landkreis Neu-Ulm zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Er hat seine Stieftochter über Jahre hinweg missbraucht. Wie ist so etwas möglich, ohne dass es jemand bemerkt?

Kroggel: Häufig droht der Täter  seinem Opfer, damit es schweigt.

Was sind dies für Drohungen?

Kroggel: Zum Beispiel sagen Täter zu den Kindern: Ich bring dein Kuscheltier um. Oder die Täter drohen damit, dass die Mama stirbt, dass das Kind ins Heim kommt, wenn es jemandem von den Vorfällen berichtet.

Auch das muss für die betroffenen Mädchen und Jungen furchtbar sein.

Kroggel: So etwas ist für ein Kind, wenn es beispielsweise erst vier Jahre alt ist, wirklich schrecklich. Die Kinder stehen unter einem hohen Druck. Bei sexuellem Missbrauch baut der Täter eine emotionale Beziehung zum Kind auf. Er sagt vielleicht: Ich hab’ dich sehr lieb, du bist etwas Besonderes. Dann macht der Erwachsene was, das ein Kind überhaupt nicht einordnen kann, das es komisch oder eklig findet.

Noch einmal: Wie sind solche Taten möglich? Warum schweigen andere Familienmitglieder jahrelang – wie im Falle des verurteilen Stiefvaters aus dem Kreis Neu-Ulm?

Müller: Die sexuelle Gewalt geschieht leise und ohne Worte. Von außen lässt er sich oft nur schwer erkennen.

Wie meinen Sie das?

Müller: Da ist zum Beispiel der Papa, der sich zu seiner Tochter ins Bett legt, ihr eine Geschichte vorliest – eine ganz normale Situation. Ein Erwachsener, der ein Kind missbraucht, nutzt diese Situation: Er berührt beim Vorlesen zunächst den Oberschenkel, irgendwann die Scheide des Mädchens. Alles soll ganz normal erscheinen.

Normal?

Müller: Ja, so soll es erscheinen. Außerdem sorgen die Täter dafür, dass der Missbrauch in einer Situation ganz alleine mit dem Kind geschieht. Die Übergriffe sind ein Geheimnis. Nur so sind solche Taten überhaupt möglich. Das Nichterkennen des Missbrauchs ist Teil des Geschehens in der ganzen Familie.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf?

Müller: So in etwa. Manche Mütter, die als Kind selbst missbraucht wurden, können oft kaum glauben, dass ihr Kind auch betroffen ist. Sie sind dann völlig fassungslos, dass sie es nicht sofort gemerkt haben. Wir sagen in solchen Fällen: Der Missbrauch tropft durch die Generationen. Anders gesagt: Grenzverletzungen haben in früheren Generationen schon stattgefunden – oft blieben die Betroffenen damit alleine.

Der verurteilte Sextäter aus dem Kreis Neu-Ulm muss vier Jahre und neun Monate ins Gefängnis. Sind die Strafen für verurteilte Sextäter zu milde?

Müller: Das ist Sache der Gerichte. Allerdings sind Strafen keine Kategorien, in denen ich denke. Das, was kaputt gemacht wurde, macht keine Strafe wieder gut. Kinder, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, brauchen Schutz und Hilfe.

Was hilft ihnen konkret?

Kroggel: Kinder brauchen Erwachsene, die sie schützen. Einfach gesagt, der Missbrauch muss aufhören.

Was leistet genau der Kinderschutzbund?

Müller: Wir hören den Kindern zu. Manchmal sagen wir ihnen, dass hier viele Kinder herkommen, die etwas Blödes erlebt haben. Das entlastet sie und sie fühlen sich nicht so alleine. Wir interessieren uns dafür, was die Kinder fühlen und denken. Das braucht Fachwissen und Zeit. Das Vertrauen der Kinder zu Erwachsenen ist grundlegend erschüttert. Vordergründig gehen die Kinder zunächst mal zum Spielen zum Kinderschutzbund. Sie kommen in aller Regel gerne hierher.
Kroggel: Wann die Kinder etwas erzählen, bestimmen diese selbst. Und vielleicht  erzählen sie, was ihnen passiert ist – und plötzlich sagen sie: Jetzt will ich Uno spielen. Das machen wir dann.
Müller: Erwachsene, die bei uns als Kinder beraten wurden, haben wir befragt, was ihnen am meisten geholfen hat. Die Betroffenen haben häufig geantwortet, dass ihnen hier bei uns geglaubt wurde und dass sie hier ernst genommen wurden.

Werden Kinder, die sexuell missbraucht wurden, später selbst Täter?

Müller. Nein, das kann man so nicht sagen.

Bieten Sie Weiterbildung für pädagogische Fachkräfte an?

Müller: Wir mache viele Fortbildungen zum Thema „Kinderschutz“.

Melden sich Menschen bei Ihnen, die beruflich mit Kindern zu tun haben?

Müller: Ja, das ist auch gut so. Im Bundeskinderschutzgesetz ist verankert, dass Kommunen Beratung zur Risikoeinschätzung bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung anbieten – und zwar von so genannten ‚Insoweit erfahrenen Fachkräften’, kurz IEF. In Ulm und im Alb-Donau-Kreis machen das die drei Beratungsstellen – auch der Kinderschutzbund.

Wie viele Anfragen haben Sie?

Müller: Viele. Wir beraten zum Beispiel Erzieherinnen und Lehrer bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Oft bieten die Erzieherinnen der Familie dann Hilfen an. Bei akuter Gefährdung wird das Jugendamt beteiligt.  Diese Beratungen sind mit einer hohen Verantwortung verbunden. Das kostet Zeit.

Wie lang ist die Warteliste beim Kinderschutzbund?

Müller: Bei „Gewalt gegen Kinder“ gibt’s keine Warteliste.

Keine Warteliste?

Müller: Grundsätzlich brauchen die Kinder sofort Hilfe. Aber wenn alle Mitarbeiter völlig ausgebucht sind, können wir den Kindern nicht helfen.

Sie schicken Ratsuchende weg?

Müller: Wir schicken wöchentlich zwei bis drei Familien weg, die uns aufsuchen, weil ein Kind womöglich Gewalt erlebt hat. Und ich frage bei den Familien dann auch nicht mehr nach, ob sie irgendwo anders untergekommen sind, bei einer anderen Einrichtung. So hart das klingt, aber das würde uns völlig überlasten. Aktuell sind wir darüber mit den Kommunen im Gespräch. Die jetzige Beratungskapazität ist nur durch zusätzliche Spenden möglich.

Sollten Kinderrechte gesondert im Grundgesetz verankert werden?

Kroggel:  Ja, Kinder sind eigenständige Persönlichkeiten. Kinder auf Augenhöhe mit Gefühlen und Gedanken ernst nehmen, das ist ein großes Zukunftsthema.

Kinderschutzbund Geschichte, zahlen Zur Person Bettina Müller, Sonja Kroggel

Das Leitungsteam

Bettina Müller (55) ist Diplom-Psychologin und Trauma-Therapeutin. Sie kam 2006 zum Kinderschutzbund und begann dort Elternkurse zu geben. Müller leitet die psychologische Beratungsstelle des Kinderschutzbundes und ist Nachfolgerin von Lothar Steurer, der im vergangenen Herbst verabschiedet wurde. Die Arbeit beim Kinderschutz macht ihr Freude, „da ich an das glaube, was wir tun“. Die 55-Jährige ist verheiratet und hat vier Kinder.
Sonja Kroggel (54), Heilpädagogin und systemische Therapeutin. Sie arbeitet seit 2016 beim Kinderschutzbund Ulm, ist stellvertretende Leiterin der psychologischen Beratungsstelle. Leiterin Bettina Müller nennt sie einen „Glücksfall“, da Kroggel so gut mit Kindern umgehe, dass diese Vertrauen zu ihr fassen.

Lobby für Kinder

Ortsgruppe Der Ortsverband Ulm/Neu-Ulm im Kinderschutzbund wurde 1974 gegründet. Er hat seine Räume in der Olgastraße 125. Der erste begleitete Umgang in Deutschland wurde 1984 durch den Kinderschutzbund Ulm ermöglicht. 1990 wurde die psychologische Beratungsstelle der Einrichtung eröffnet. Seit 2003 bietet der Kinderschutzbund „Hau ab du Angst“ an, ein Theaterprojekt gegen sexuelle Gewalt, das jährlich 600 Grundschüler sehen. 2017 wurden 492 Klienten unterstützt. Insgesamt teilen sich dort sechs Mitarbeiter 4,1 Stellen. Die Stadt Ulm und der Alb-Donau-Kreis finanzieren 3,06 Stellen. Der Rest wird mittels Spenden finanziert. Der Kinderschutzbund ist zu erreichen unter Tel. (0731) 280 42. „Eine Nummer, die jedes Ulmer Kind kennen sollte“, sagt Leiterin Bettina Müller.