Seinen Job erfüllte der Klassenlehrer nach außen offenbar vorbildlich. Er galt als Aushängeschild der Schule. Andreas S. dominierte die ihm geschaffene Bühne – verließ sie aber vor zwei Jahren unfreiwillig mit einem gewaltigen Beben. Das wahre Ausmaß seiner Taten wurde erst vor dem Landgericht Heilbronn im Frühjahr 2021 deutlich. Jener Lehrer, der sich als Rettungssanitäter in zwei Jahren zum Waldorfklassenlehrer ausbilden ließ, nutzte seine Position zu seinem sexuellen Vorteil aus, vergriff sich über Jahre an Schutzbefohlenen, missbrauchte manche schwer.
Die Verurteilung des Sexualstraftäters bildete für die Waldorfschule keinen Schlussstrich. Im Gegenteil: Es wurde deutlich, dass mindestens drei weitere Lehrer Beziehungen mit Minderjährigen führten oder ihre Nähe suchten. Vor Gericht wurde öffentlich, dass manche Vorgänge Lehrern, Schülern und Eltern bekannt waren – reagiert wurde nicht oder nicht ausreichend, wodurch die Zahl der Opfer stieg.
Privatausflüge mit dem Lehrer
Klar ist heute: Das System Waldorfschule kann brutal ausgenutzt werden, weil der Klassenlehrer eine zentrale Rolle einnimmt und acht Jahre lang die wichtigste Bezugsperson ist. Zusammen mit der besonderen Nähe, der familiären Struktur, wurde das für manche Kinder zur Falle. „Ich bin aus allen Wolken gefallen, wie das verflochten ist“, sagte die leitende Kripo-Beamtin als Zeugin darüber, dass Eltern ihre Töchter etwa zu Privatausflügen und zum Übernachten mit dem Lehrer mitschickten.
Schulleiter Fabian Stoermer trat im Sommer 2021 zurück. Etliche Eltern, die über Jahrzehnte tief in der Waldorf-Familie verwurzelt waren, nahmen, wie sie der Redaktion berichteten, ihre Kinder aus der Schule, schicken sie nun in staatliche Einrichtungen. Manche nutzen das Ende der Waldorf-Kindergartenzeit, um einen leichteren Ausstieg zu finden.
Auf Nachfrage bestätigt der neue Schulleiter Rainer Däuber, dass es zu einer „signifikanten Minderung“ der Schülerzahlen gekommen sei – genauer wird er auch auf Nachfrage nicht. Ein Lehrer habe die Schule verlassen. Däuber rechne aber wieder mit einer positiven Entwicklung. Krippe und Kindergarten seien mit 20 und 89 Plätzen ausgebucht. Es gebe Wartelisten. 336 Schüler besuchten die Einrichtung, die erste Klasse sei mit 36 Kinder wieder voll.
Doch von Normalität scheint die Schule weit entfernt. Lehrer berichten der Redaktion von tiefen Gräben unter den Kollegen, von Misstrauen und Vorwürfen. Vergangene Woche stach das Magazin „Zeit Verbrechen“ mit einem mehrseitigen Bericht in die unverheilten Wunden. Als Hauptprotagonistin berichtet eine Schülerin, wie S. sie missbraucht habe. Sie war auch beim Prozess dabei – ihr Fall floss aber nicht in die Verurteilung, weil er verjährt ist – so wie viele weitere Fälle, über die zum Teil in dieser Zeitung bereits berichtet wurde.
Aber nicht nur der sexuelle Missbrauch durch S. und weitere Lehrer ist im Magazin Thema. Es geht auch um krude Erziehungsmaßnahmen, die an der Schule praktiziert worden seien. Lehrer, die auf Tafeln und Türen einschlugen, Schulbücher der Kinder zerrissen und die Einzelteile nach ihnen warfen. Kinder seien zur Strafe an Tischbeine gebunden und zum Essen gezwungen worden. Wenn sie erbrachen, hätten sie das Erbrochene wieder zu sich nehmen müssen. Der Schulleiter wurde vom Magazin damit konfrontiert. „Zeit Verbrechen“ zitiert Däuber: „Die Vorkommnisse wurden intern dokumentiert und bearbeitet.“ Die genannten Wutausbrüche von Mitarbeitern seien bekannt. Auch gegenüber dieser Zeitung wurden Vorwürfe von ehemaligen Schülern erhoben. So wurde etwa berichtet, dass Schüler zur Strafe vom Boden abgekratzte Kaugummis in den Mund nehmen mussten.
Mehrere Vorfälle dokumentiert
Auf Nachfrage der Redaktion zu den im Magazin genannten und weiteren Vorfällen will sich Däuber nicht äußern. Er schreibt: „Ohne gesicherte Information (...) ist es uns nicht möglich, in angemessener Weise auf die Schilderungen einzugehen.“ Bereits bekannt ist, dass sein Vorgänger Stoermer in Gesprächskreisen mit Eltern mehr als eine Stunde lang auf Grenzüberschreitungen durch Lehrer eingegangen war, die in den vergangenen 30 Jahren dokumentiert wurden.
Es gibt auch aktuelle Fälle. Däuber bestätigt, dass ein Lehrer abgemahnt wurde, weil er vor Schülern Alkohol getrunken hat. „Die Lehrkraft hat die Schule inzwischen verlassen.“ Aufgefallen war ein Lehrer, der Corona-Maßnahmen strikt ablehnt und mit seiner extremen Meinung öffentlich, etwa in den Leserbriefspalten und auf Demonstrationen wirkte. Er soll nach Informationen der Redaktion Schüler unter anderem gezwungen haben, Hygienevorschriften zu missachten. Der Schulleiter will sich „aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes“ nicht zum Verhalten des Lehrers äußern. Däuber bestätigt aber, dass der Mann nach einer Entscheidung der Schule dort nicht mehr aktiv ist.
In einem Brief an die Eltern, der der Redaktion vorliegt, schreibt Däuber, dass mit der Berichterstattung im Magazin nun „einem bundesweiten Leserpublikum die Tragweite des an unserer Schule Geschehenen vor Augen geführt“, werde. Die Schule verstehe das als erneuten Ansporn, weiter den Weg der Aufklärung zu beschreiten. „Gleichwohl bewegt uns vor allem die Sorge um das Wohlergehen ehemaliger, gegenwärtiger und zukünftiger Schüler.“
PS: Wahre Verbrechen stehen übrigens im Zentrum unserer Themenseite swp.de/crime. Hören Sie dort den Podcast „Akte Südwest“ und lesen Sie Hintergründe zu aktuellen und historischen Fällen in Baden-Württemberg – und vieles mehr.
Schutzkonzept und Schulsozialarbeit
Die Waldorfschule wollte mit einem Schutzkonzept weiteren Missbrauch verhindern. „Die erschütternden Ereignisse an unserer Schule haben uns veranlasst, das Leitbild an unserer Schule zu schärfen und die Schulsozialarbeit auszubauen“, berichtet Rainer Däuber. Der Organisationsentwicklungsprozess sei aber bewusst noch nicht abgeschlossen. Die Schule wolle „vielmehr an einer kontinuierlichen Verbesserung, Evaluierung und Qualitätssicherung arbeiten“. thumi