Daheim bleiben – das ist in Corona-Zeiten das Gebot der Stunde. Nur: Wie soll einer daheim bleiben, der kein Zuhause hat? Was macht ein Mensch, der wohnsitzlos ist, wie kann er sich schützen und wo findet er Zuflucht? Die Antworten darauf gibt die Arbeiterwohlfahrt in Reutlingen, die sich jährlich um 700 Männer und 200 Frauen kümmert. Für sie alle versucht die AWO derzeit trotz aller Schwierigkeiten, die die Virus-Ausbreitung mit sich bringt, da zu sein. „Wir lassen keinen im Regen stehen. Wir versuchen den Betrieb am Laufen zu halten“, verspricht Heike Hein von der Fachberatungsstelle „Unter den Linden“ all jenen, die kein Dach über dem Kopf haben. Ein Versprechen, das derzeit allerdings gar nicht so leicht einzuhalten ist.
Hauptamtliche arbeiten in Wechselschichten
Vor allem die Fachberatungsstelle für Männer muss täglich erreichbar sein. „Hier läuft die gesamte Geldverwaltung, hier geht es auch um die Sozialhilfe. Da muss der Betrieb gesichert sein“, sagt Hein. Weshalb das Team in getrennten Wechselschichten arbeitet, damit einige der Hauptamtlichen immer einsatzbereit sind und nicht alle gleichzeitig krank werden. Allerdings treibt die Wohnsitzlosen die Tatsache, dass das Jobcenter wegen Corona geschlossen ist, mächtig um. Also versuchen sie die AWO nicht nur telefonisch zu erreichen, sondern stehen dort auch vor der Tür – und die ist derzeit abgeschlossen. „Wir müssen natürlich auch den engen Kontakt vermeiden. Also müssen die Leute klopfen und wir lassen sie dann einzeln ins Büro“, berichtet die Sozialarbeiterin.
An anderer Stelle indes ist es weit komplizierter, die Corona-Abstands-Regeln einzuhalten. In der Notübernachtungsstelle in der Glaserstraße stehen zu Normalzeiten zwölf Betten für Männer und vier für Frauen. Vier Übernachtungsplätze pro Raum – das geht momentan natürlich gar nicht. „Wir mussten die Belegungsdichte reduzieren auf zwei Mann pro Zimmer“, so Hein, die froh ist, dass die Städte Reutlingen und Bad Urach sich jetzt einiger Obdachloser, die bei der AWO nicht mehr unterkommen konnten, angenommen haben. Der Gemeinschaftsraum in der Glaserstraße allerdings kann gar nicht mehr genutzt werden. Und weil Personalmangel herrscht, ist die Notübernachtungsstelle nun sogar stundenweise unbeaufsichtigt. „Denn viele unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter sind über 70 Jahre alt. Sie gehören zur Corona-Risiko-Gruppe und dürfen aktuell nicht mehr im Einsatz sein“, erklärt die Sozialarbeiterin. Jetzt, sagt sie, müssen die Wohnungslosen, die in der Glaserstraße untergebracht sind, selbst darauf achten, dass keiner mehr zusätzlich in die Notunterkunft kommt.
Der Tagestreff ist geschlossen
Probleme gibt es für viele Menschen ohne Obdach in Reutlingen derzeit aber auch, weil der Tagestreff in der Stadtmitte Corona-bedingt geschlossen werden musste. „Wir hatten hier viele chronisch Kranke und ältere Besucher, die zum Reden und zum Essen herkamen“, berichtet Hein, die ahnt, wie sehr der Aufenthalt im Tagestreff vielen fehlt. Mit Hilfe des Grünen-Stadtverbands hat die AWO deshalb einen Lieferservice auf die Beine gestellt, dank dem Lebensmittel und Essenspakete ihren Weg zu den Bedürftigen finden.
Und was machen diejenigen, die in keine der AWO-Einrichtungen kommen, diejenigen, die immer auf der Straße leben? „Sie sind bei uns nur postalisch angedockt“, berichtet Hein von jenen Menschen, „die für sich entschieden haben, draußen zu leben und die deshalb auch keine Angst haben, nicht in einer Notunterkunft unterzukommen“. In der Gemeinschaft, wie zum Beispiel in der Glaserstraße, „würden sie es gar nicht aushalten“. Weshalb sie auch nicht das Problem zu vieler und zu enger Kontakte hätten, sagt die AWO-Mitarbeiterin mit Blick auf die Corona-Infektionsgefahr. Aber auch für die, die dauerhaft auf der Straße leben, wollen Hein und ihre Kollegen immer als Ansprechpartner da sein. „Im Stich lassen wir keinen“, sagt sie. Vor allem nicht in Corona-Zeiten.