Frau Müller, welche Auswirkungen haben die derzeitigen Einschränkungen auf Familien?
Bettina Müller: Die Isolation der Menschen bedeutet in erster Linie Stress. Die herkömmlichen Strukturen sind aufgebrochen. Vor der Krise waren die Kinder in der Kita oder in der Schule, die Eltern bei der Arbeit. Nachmittags oder abends hat man sich dann getroffen und ausgetauscht. Das fällt nun alles weg, da die Kinder und Eltern dauerhaft zuhause sind. Dazu kommen die fehlenden sozialen Kontakte zu Freunden oder auch Großeltern. Diese Situation birgt enorme Herausforderungen und Konfliktpotenzial bis hin zu Gewalt.
In wieweit ist es sinnvoll seine Kinder in Sorgen und Ängste miteinzubeziehen und über die Pandemie zu sprechen?
Ich rate dazu, sich mit seinen Kindern hinzusetzen und ihnen die Lage zu erklären. Kinder bekommen sehr gut mit, ob die Eltern etwas belastet. Die Schwierigkeit ist, dass gerade kleinere Kinder Probleme, die sie nicht verstehen, sehr schnell auf sich beziehen: „Es ist meine Schuld, dass Mama aufgeregt ist. Es ist meine Schuld, dass Papa so schnell zornig wird.“ Aus diesem Grund sollte man ehrlich sein und sagen: „Es kann passieren, dass Papa seine Arbeit verliert. Ja, wir machen uns Sorgen, aber wir kümmern uns darum. Das hat nichts mit dir zu tun.“
Auch das Arbeiten von zuhause kann innerhalb von Familien zu Schwierigkeiten führen. Wie kann man hier für Entlastung sorgen?
Es ist wichtig, die verloren gegangenen Strukturen wieder bestmöglich herzustellen. Beispielsweise indem man einen Tagesablauf mit den Kindern bespricht und festlegt. Jetzt ist die Arbeit dran, jetzt die Schule, dann hat jeder Zeit für sich. Zudem sollte ein Elternteil für die Kinder immer ansprechbar sein. Wichtig ist, dass alles nicht perfekt laufen muss. Jeder in der Familie darf Fehler machen.
Alleinerziehende trifft die fehlende Betreuung der Kinder besonders, da ein unterstützender Partner fehlt.
Klar ist, dass es keine allgemein gültige Lösung gibt und gerade Alleinerziehende unter einer enormen Belastung stehen. Ich rate dazu, sich anderen Familienangehörigen oder Freuden anzuvertrauen und über seine Situation zu sprechen. Sobald man merkt, dass es nicht mehr weitergeht, sollte man sich jedoch professionelle Hilfe suchen.
An wen können sich Betroffene wenden?
Man kann sich an die Erziehungsberatungsstellen, an das Kinderschutzzentrum des Kinderschutzbunds oder die Jugendämter wenden. Unsere Telefone sind auch weiterhin besetzt. Die Berater sind in Erziehungsfragen, aber auch im Krisenmanagement erfahren und zeigen auf, welche Möglichkeiten es gibt.
Was kann man darüber hinaus für den Schutz der Kinder tun?
Kinder schützt, wenn Eltern selbst mit der Krise gut umgehen können. Die Erwachsenen sind Vorbilder. Es ist wichtig, eine positive Grundhaltung zu vermitteln, und einen Sinn darin zu sehen zuhause zu bleiben.
Was kann man als Außenstehender tun, wenn man merkt, dass die Konflikte innerhalb einer Familie außer Kontrolle geraten?
Man kann versuchen, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Gerade als Nachbar kann man vielleicht mal nachfragen, ob man bei irgendetwas behilflich sein kann. Vielleicht auch anmerken: Bei uns ist es gerade auch nicht so einfach. Ein Austausch über Sorgen und Ängste kann sich bereits stresslindernd auswirken. Sobald es entgleist, sollte man sich aber an entsprechende Beratungsstellen wenden. Dort kann man sich kostenlos und anonym melden.
Der Kinderschutzbund wäre zum Beispiel eine solche Anlaufstelle?
Ja. Darüber hinaus gibt es in der Region noch weitere Beratungsstellen und die Jugendämter. Als Nachbar, Bekannter, Freund oder Familienangehöriger sollte man aber versuchen abzuwägen, ob es sich tatsächlich um eine Gefährdung handelt, denen man durch eine Beratung und Begleitung begegnen kann. Oder ob es sich tatsächlichen um Gewalt oder Missbrauch handelt. In diesem Fall empfiehlt es sich, direkt beim Jugendamt oder in akuten Fällen bei der Polizei anzurufen. Das gilt nicht nur für die Zeit der Corona-Pandemie, sondern auch darüber hinaus.
Ab wann fängt Gewalt gegen Kinder an?
Gewalt fängt für mich dann an, wenn Erwachsene die Kontrolle über die Situation verlieren, ihren Impulsen folgen und nicht mehr die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Angenommen ein Zweijähriger wälzt sich auf dem Boden, weil er ein Kaugummi will. Bin ich genervt, lasse mich aber nicht verunsichern, beruhigt sich die Situation. Werde ich jedoch hilflos, schreie rum oder schlage sogar zu, verliere ich als Erwachsener die Kontrolle und eskaliere die Situation weiter
Haben Sie in den vergangenen Tagen eine Zunahme an Anrufen und Meldungen wahrgenommen?
Die Situation hat sich verschärft. Es melden sich vermehrt Familien, die überfordert sind und Fragen haben. Allerdings haben wir auch eine Zunahme an Anrufen, bei denen es sich tatsächlich um Gewalt handelt. Vor Corona waren es die Erzieher und Lehrer, die sich bei uns gemeldet haben. Jetzt sind es die Nachbarn oder auch Personen, die etwa beim Spazierengehen etwas bemerkt haben. Daher rate ich Eltern auch, sich rechtzeitig bei uns zu melden, sobald man sich überfordert fühlt. Auch jetzt hat jeder Elternteil das Recht auf Erziehungsberatung.
Gibt es Familien, die besonders gefährdet sind?
Es ist natürlich einfacher, einen Konflikt zu vermeiden, wenn ich in einem großen Haus mit Garten lebe statt in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Allerdings geht Gewalt durch alle Schichten. Kinder als die Schwächsten in der Familie leiden oft am meisten, auch bei häuslicher Gewalt. Genauso müssen wir Kinder, die sexuellen Missbrauch erleben, im Blick behalten. Gewalt geschieht oft hinter verschlossenen Türen.
Gibt es altersbedingte Unterschiede? Ein Jugendlicher kann sich schließlich eher zur Wehr setzten als ein Kleinkind.
Kleine Kinder befinden sich in einem größeren Abhängigkeitsverhältnis als die Älteren. Sie suchen aufgrund ihres Alters stärker Nähe und Geborgenheit bei den Eltern. Ältere Kinder oder Jugendliche sind dagegen unabhängiger und können sich etwa durch das Smartphone mit Freunden austauschen. Allerdings beginnt Gewalt in der Familie oftmals bereits im Kleinkindalter. Da stellt sich die Frage, ob ein Kind, das sein Leben lang Gewalt erfahren hat, im Jugendalter noch in der Lage ist, sich einer außenstehenden Person anzuvertrauen.
Haben die Bildungseinrichtungen die Probleme bisher abgefangen?
Natürlich. In Schulen und Kitas haben die Kinder und Jugendlichen schließlich fast den ganzen Tag verbracht. Es sind geschützte, gewaltfreie und fördernde Lebensräume, die nun weggefallen sind. Doch wenn das Zuhause kein sicherer Ort ist, wo sollen die Kinder jetzt hin? Momentan gibt es da keine Ausweichmöglichkeit.
Wie muss man sich ihre Arbeit unter den erschwerten Bedingungen gerade vorstellen?
Wir stehen nach wie vor in Kontakt zu den Familien, die wir bereits vor der Krise betreut haben. Und wir beraten auch Familien, die nun neu dazu kommen, nur eben telefonisch und bald auch video--gestützt. Dazu kommt der enge Austausch mit Ämtern, Institutionen und anderen Beratungsstellen. Unter anderem mit diesem Netzwerk können wir auch jetzt beraten, unterstützen und weiter vermitteln.
Glauben Sie die Corona-Pandemie wird langfristig Auswirkungen auf Familien haben?
Das ist schwer zu sagen. Sollten Kinder aufgrund der derzeitigen Situation Opfer von Gewalt werden ohne Hilfe zu bekommen, werden uns die Folgen noch lange beschäftigen. Über das Ausmaß kann man momentan nur spekulieren. Laut Experten wird die momentane Situation zu mehr Gewalt führen.
Haben Sie aufgrund dieser Sorge Maßnahmen ergriffen?
Wir haben in den vergangenen Tagen alle Familien, die bereits eine , gefragt, ob sie auch weiterhin betreut werden möchten. Bis auf ein, zwei Ausnahmen haben alle Familien den Wunsch geäußert, weiterhin telefonisch begleitet zu werden. Das bedeutet, vormittags betreuen wir Anrufe am Hilfstelefon und nachmittags kontaktieren wir die Familien.
Was kann jetzt getan werden, damit Kinder und Jugendliche trotz schwacher Lobby nicht vergessen werden?
In der Region haben wir seit vielen Jahren ein gutes Hilfenetz im Kinderschutz mit vielen Akteuren. Seit Anfang des Jahres hat der Kinderschutzbund zusätzlich das Kinderschutz-Zentrum eröffnet. Das ist ein wichtiges Angebot und eröffnet Perspektiven für die Arbeit mit den gewaltbelasteten Kindern und Familien. Denn es gilt weiterhin: Kinderschutz ist systemrelevant. Das bedeutet, wir müssen jetzt präventiv arbeiten, langfristig denken und dürfen nicht ins Stocken geraten, ganz im Gegenteil.