Der Gedenkstein steht mitten im Wald, am Rand eines aufgelassenen Weges, den kaum jemand mehr begeht. Das Laub vom letzten Herbst liegt kniehoch. Einsam ist es hier oben. Das graue Denkmal, das seit 1955 auf dem Emerberg steht, erinnert an einen Kindsmord, der sich 1818 hier, zwischen Zwiefalten und dem Dorf Emeringen, zugetragen hat. Und es erinnert nicht nur an die schreckliche Bluttat, der der kaum zwölfjährige Josef Wiker zum Opfer fiel. Mit dem Mord verbindet sich auch ein Ereignis, das vor genau 200 Jahren in die Geschichte der Stadt Münsingen eingehen sollte – und dessen letzter „Zeuge“ heute noch im Karlsruhe Stadtmuseum zu finden ist.
Es ist Nachmittag, ein Mittwoch. Wie an jedem Wochentag ist der ungewöhnlich begabte Bauernsohn Josef Wiker auf dem Rückweg von Zwiefalten, wo er Lateinunterricht nimmt, hinüber nach Emeringen, zum Hof seiner Eltern. Der kürzeste Weg führt durch den Wald über den Emerberg. Bei sich trägt er eine silberne Uhr von der auch der Michel, der Knecht seines Vaters, weiß. Michel, eigentlich Michael Starkmann, ist schon seit Jahren als Erntehelfer bei dem Bauer in Lohn und Brot. Ein Tagelöhner, der, wenn die Ernte eingebracht ist, wieder fortgeschickt wird. So auch jetzt, weshalb den Michel die Zukunftssorgen plagen und die nackte Angst vor dem drohenden Hunger im kommenden Winter.

Mörder lauert dem Jungen im Gebüsch auf

Der verlockende Gedanke, sich der silbernen Uhr des Bauernsohns zu bemächtigen, will ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hat Gewissensbisse, wie aus den späteren Untersuchungsberichten hervorgeht, die der Lokalhistoriker Ulrich Dewald aus Münsingen schon vor Jahren ausgewertet hat. Er weiß nur zu gut, dass es unrecht ist, was er plant. Starkmann ist damals knapp 55 Jahre alt. Mehrere Tage beobachtet er den Jungen heimlich auf seinem täglichen Weg, will auch schon zur Tat schreiten, schreckt aber immer wieder zurück. Bis zu jenem 12. August, als er, mit einem Messer bewaffnet, in einem Gebüsch im Wald auf Josef wartet. Pünktlich gegen halb fünf am Nachmittag taucht der Junge am Emerberg auf. Starkmann stellt sich ihm in den Weg: „Josephle, wie Zeit ist’s?“, fragt er ihn. Der Junge, der den Michel gut kennt, denkt sich nichts und zieht die Uhr hervor. In diesem Moment sticht Starkmann zu. Schwer verwundet rennt Josef Wiker „noch 211 Schritte den Berg so schnell, daß ihn kein Pferd gefangen hätte, hinab“. Dann fällt er tot zu Boden, heißt es in den Protokollen. Etwa dort, wo seit 1955 auf dem Emerberg der Gedenkstein steht.

Ein Schwert für Hinrichtungen angefertigt

Fast ein halbes Jahrhundert vor diesem Ereignis hat sich der Tübinger Scharfrichter Georg Friedrich Belthle in Karlsruhe ein Richtschwert fertigen lassen, das noch heute im dortigen Stadtmuseums zu sehen ist. „1772 hat er das Schwert vermutlich bei einem Waffenschmied in Karlsruhe in Auftrag gegeben“, sagt Helmut Belthle, ein Nachfahre des Tübinger Scharfrichters, der seit Jahrzehnten auf dem Gebiet forscht und längst ein anerkannter Spezialist für das Henkerswesen ist. Das Schwert, so berichtet der 64-jährige Oberamtsrat im Wissenschaftsministerium, sei 1,15 Meter lang, die darin eingravierten Inschriften lauteten neben „Carlsruhe 1772“: „oh herr nimm armer Sünder auff in dein reich Damit er kann selig werden vor einen glücklichen Streich“ sowie „Ich stehe Ich hoffe nebst Gott zu richten Recht jesus Christus du bist der Richter und ich bin der Knecht“. Sein Vorfahre Georg Friedrich Belthle, der 1757 in Tübingen geboren wurde, entstammte einer Scharfrichterdynastie, die ursprünglich aus Leonberg kam. Das zwei Kilo schwere Richtschwert hatte sich Belthle anfertigen lassen, um vermutlich 1772 mit 15 oder 16 Jahren sein Meisterstück abzuliefern, erklärt Helmut Belthle, der in Ludwigsburg lebt.
19 Hinrichtungen später, am 5. Juni 1820, also fast auf den Tag genau vor 200 Jahren, steht der inzwischen 63-jährige Scharfrichter mit diesem Schwert auf einem hölzernen Schafott am Ortsrand von Münsingen und erwartet den Delinquenten. Nach dem Raubmord an Josef Wiker war Michael Starkmann bald arretiert. Sein rasches Geständnis schützte ihn nicht davor, dass im Anschluss an die umfangreichen Untersuchungen am 23. Mai 1820 der Kriminalsenat des Königlichen Obertribunals in Stuttgart das Todesurteil über ihn verhängte: Sein Körper sollte aufs Rad geflochten und der Kopf auf einen Spieß gesteckt werden. Notabene: Wir schreiben das Jahr 1820! Vermutlich dachte sich das auch der württembergische König, der den Straftäter begnadigte: Die Todesstrafe solle durch das Schwert vollzogen werden. Was auch geschah.

Der Verurteilte will schneller zum Schafott

Doch die Sache ging im Wortsinn fürchterlich daneben und nicht zuletzt deshalb in die Geschichte ein. Als der Zug vom Münsinger Rathaus hinaus zur Richtstätte nicht recht vorankommt, drängt der Verurteilte noch zur Eile, nicht ahnend, was da außer dem Tod auf ihn wartet: „Nur vorwärts“, soll Starkmann gerufen haben, „ich bin den Soldatenschritt gewohnt.“ Am Richtplatz angekommen, wird der Verurteilte auf dem Schafott auf einen Stuhl gesetzt. Der Abdecker Gentner aus Ebingen, der Belthle neben dem Reutlinger Scharfrichter Johannes Kratt assistiert, legt ihm eine lederne Schlinge um den Hals, die er über dem Haupt zusammenbindet, um an diesem den Kopf des kräftigen Mannes etwas nach oben zu ziehen. Belthle visiert den muskulösen Hals des Tagelöhners an. Dass dann folgende Geschehen rekonstruiert Helmut Belthle so: „Der erste Hieb wird von Belthle wie üblich ausgeführt, ist aber letztlich doch zu schwach, um den Kopf vom Rumpf zu trennen. Mit dem zweiten Hieb schlägt er Starkmann, der nach vorne über vom Stuhl kippt, in die rechte Schulter und haut ihm vier Finger der linken Hand ab.“ Es ist ein Gemetzel. Er versucht es ein drittes Mal, dann entreißt ihm Scharfrichter Kratt das Schwert und bringt die Arbeit mit einem wuchtigen Hieb zu Ende. Dem blutigen Spektakel, das für Georg Friedrich Belthle nicht ohne Folgen bleibt, wohnen mehr als 6000 Zuschauer bei, inklusive einiger abkommandierter Schulklassen. Es wird die letzte Hinrichtung in Münsingen bleiben.
Gentner wird später im Verfahren vor dem Oberamtsgericht Münsingen, das die Schuld Belthles an der missratenen Hinrichtung untersucht, berichten, dass alle auf dem Schafott die Fassung verloren hätten: „Ein Donnerschlag hätte uns nicht mehr erschrecken können.“ Belthle sieht die Ursache seines Versagens in der starken Konstitution des Delinquenten: „Es war gerade, als ob man mit einem Beil in sehr hartes Holz hineinhauen würde“, gibt der Scharfrichter, der bis dato alle 19 von ihm durchgeführten Hinrichtungen fehlerfrei ausgeführt hatte, zu Protokoll. Am Ende des Untersuchungsverfahrens kann der königliche Kriminalsenat in Ulm zwar kein strafbares Handeln Belthles feststellen, der Vollzug von Todesstrafen wird dem Scharfrichter für die Zukunft aber untersagt.

Schwert im Besitz des Karlsruher Stadtmuseums

Und das Richtschwert? In Belthles Händen hat es seine Arbeit getan. Als Gemeindeinspektor in Tübingen ist er fortan nur noch zuständig für den ordnungsgemäßen Zustand der Tore, Straßen und Wege der Stadt. Das Schwert erhält sein Nachfolger Johannes Kratt, der 1862 stirbt. „Es gelangt danach an Georg Hauser, der mit einer Kratt verheiratet war“, berichtet Helmut Belthle. 1884 kauft ein Straßburger Waffenhändler das Richtschwert, das schließlich über den Karlsruher Ratsherrn Huber, der es 1938 an die Stadt verschenkt, in den Besitz des Karlsruher Stadtmuseums gelangt. Dort liegt es bis heute unter dem Namen „Karlsruher Richtschwert“, auch wenn nicht gesichert ist, dass es in Karlsruhe jemals zum Einsatz kam.

Das könnte Sie auch interessieren: