An manchen Vormittagen überkommt Matthias Kullen der Eindruck, dass auf den Straßen mehr los ist, als vor Corona-Zeiten. In langen Schlangen warten die Menschen der südperuanischen Großstadt Arequipa täglich vor Banken und Supermärkten, weil viele keinen Kühlschrank besitzen. Zum Straßenbild gehören auch zahlreiche Verkäufer, eingedeckt mit Masken und Handschuhen. Etwa 60 bis 70 Prozent der Peruaner sind Tagelöhner, die sich eine „cuarentena“ auch bei bedrohlich steigender Infektionszahlen einfach nicht leisten können. Aus diesem Grund schnürt Matthias Kullen beinahe jeden Tag Lebensmittelpakete.

Zu Fuß in die Heimatdörfer

Nach Peru hat es den gebürtigen Hülbener 2012 verschlagen. Die Anstellung bei „DMGinterpersonal“, einem christlichen Missions- und Hilfswerk aus Sinsheim, führte den studierten Theologen und Stadtplaner zunächst in das ländliche Gebiet Arequipas. Unter dem Volk der Quechua widmete er sich der Kinder- und Jugendarbeit, bis es ihn vor vier Jahren in die Hauptstadt der Region zog. Seitdem leitete er an mehreren Hochschulen Bibelkreise für Studenten – zumindest bis vor drei Monaten.
Auf die Ankunft des Virus reagierte die peruanische Regierung rasch. Seit dem 16. März herrscht eine Ausgangssperre, die noch mindestens bis zum 30. Juni andauern wird. Universitäten und Schulen sind geschlossen, Grenzen und Flughäfen dicht, selbst der Verkehr zwischen den Provinzen ist erlahmt: „Viele Peruaner, die aus den Anden in die Städte gezogen sind, stehen unter Druck. Sie haben Felder in ihren Heimatdörfern, die abgeerntet werden müssen“, erzählt Kullen. „Damit die Ernte nicht verkommt, laufen viele hunderte Kilometer zu Fuß.“

Straßen sind wieder voll

In der Mittelschicht werden die Maßnahmen der Regierung befürwortet, und wer kann, arbeitet im Home Office. So erstarben in den ersten Tagen der Ausgangssperre die Fußgängerzonen, doch das Bild hat sich schnell gewandelt, obwohl Polizei und Militär Arbeitserlaubnisse kontrollieren: Auf die Straße darf eigentlich nur, wer zum medizinischen Personal gehört, in einem Supermarkt oder einer Bank beschäftigt ist. Zu den Ausnahmen gehört auch Matthias Kullen, weil er mit seiner Arbeit Bedürftige unterstützt.
„Die Regierung stellt einen Bonus von 760 Soles für Arbeitslose bereit, zudem stellt die Regierung Essenspakete an bedürftige Peruaner.“ Oftmals aber komme die Hilfe nicht an, sodass Kullen und die Mitarbeiter des Hilfswerks wöchentlich 800 Lebensmittelpakete zusätzlich ausliefern. Reis, Kartoffeln, dazu Mehl, schwarze Bohnen, Linsen, Spaghetti,  Milch und Thunfisch aus der Dose besorgt Kullen jeden Montag in rauen Mengen, um die Pakete am Dienstag und Mittwoch zusammenzustellen. Ausgefahren wird schließlich am Freitag, und das nicht nur an Peruaner.
In Arequipa leben etwa 20 000 venezolanische Flüchtlinge. Von den strengen Schutzmaßnahmen sind besonders jene betroffen, die erst kurz vor Erlass der Ausgangssperre angekommen sind. In einer eigens entwickelten App haben sich bereits 3000 Familien registriert, sodass jeder Haushalt nun alle drei Wochen ein Paket des Hilfswerks erhält.

Zweiter Hotspot in Südamerika

Hilfen, die dringend gebraucht werden in einem Land, das neben Brasilien besonders hart von der Corona-Pandemie getroffen wurde. Peru entwickelt sich derzeit zum zweiten Corona-Hotspot in Südamerika. Aktuell zählt man knapp 180 000 bestätigte Corona-Fälle, Ende Mai kletterte die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf rund 8800. Inzwischen hat sich die Zuwachsrate in etwa wieder halbiert. Gleichwohl mussten in Peru seitdem das Virus angekommen ist, rund 4900 Todesopfer beklagt werden. Erst kürzlich wurde die geltende Ausgangssperre von Perus Präsident, Martín Vizcarra, bis zum 30. Juni mit einzelnen Lockerungen verlängert. Schulen und Universitäten bleiben aber noch bis zum Ende des Jahres geschlossen. Der Unterricht und die Vorlesungen finden allesamt online statt.

Heimflug verschoben

Um sich selbst macht sich Matthias Kullen derweil keine Sorgen, vielmehr um die Peruaner, die ihre Arbeit verloren haben und nichts zu essen haben. Sobald wie möglich will Kullen gleichwohl mit seiner peruanischen Freundin zurück nach Deutschland kommen. Ob sie aber als Nicht-Europäerin überhaupt nach Deutschland einreisen darf, ist derzeit noch unklar.
So wie regelmäßig alle drei bis vier Jahre hat Matthias Kullen auch für dieses Jahr einen Heimflug gebucht. Er ist für den 29. Juni geplant. Doch wegen des geschlossenen Flughafens muss er ihn wohl zunächst auf unbestimmte Zeit verschieben. „Wohl mindestens bis Oktober oder sogar noch länger.“