Drohungen per Telefon und WhatsApp, ein Judogürtel als Waffe und ein junger Mann, der seine Impulsivität nicht mehr kontrollieren kann: Im letzten Herbst ist so eine Situation in einem Wohnheim für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eskaliert. Im Landgericht Hechingen wird seit dem 20. April 2023 über die Tat verhandelt.
Der nun Angeklagte ist im Mai 2022 in die Einrichtung im Kreis Sigmaringen gezogen – „auf freiwilliger Basis“, heißt es in der Anklageschrift. Er fühlte sich aber zunehmend unwohl. Wiederholt soll er den Wunsch geäußert haben, die Einrichtung zu verlassen.

Patient will Rauswurf provozieren

Nachdem seinem Wunsch nicht nachgegeben wurde, versuchte er im Oktober 2022 seinen Rauswurf zu provozieren. Als sein Verhalten nicht zum erwünschten Ergebnis führte, ging er einen Schritt weiter: Per WhatsApp und Telefon drohte er gegenüber zwei Mitarbeiterinnen der Einrichtung an, den Leiter und dessen Frau, die dort als Pädagogin tätig ist, zu töten. Doch auch das hatte nicht den gewünschten Effekt. Also setzte er seine Drohungen in die Tat um.
Mit einem Judogürtel bewaffnet trat er in den Innenhof, wo die Frau des Einrichtungsleiters mit einer Patientin eine Gymnastikstunde vorbereitete. „Dein letztes Stündlein hat geschlagen“, soll der Tatverdächtige gerufen haben, als er auf die Pädagogin zuging. Mehrfach soll er versucht haben, ihr den Gürtel um den Hals zu legen. Die Frau konnte die Angriffe aber abwehren. Sie rannte auf die Straße und suchte Hilfe. Der Angeklagte soll ihr gefolgt sein. Durch die Hilfeschreie des Opfers alarmiert, eilten vier weitere Mitarbeiter der Einrichtung herbei. Sie konnten den Beschuldigten vom Opfer wegziehen und ihn am Boden fixieren, bis die Polizei eintraf, obwohl er sich mit Tritten, Bissen und Spucken wehrte. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm versuchten Totschlag vor – „im Zustand verminderter Schuldfähigkeit“.

Tatverdächtiger hat psychische Vorerkrankungen

Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wuchs der Angeklagte unter schwierigen Bedingungen auf. Infolgedessen entwickelte er eine Bindungsstörung und eine Entwicklungsstörung. Zusätzlich leidet er an einer rezidivierenden depressiven Störung und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ. Menschen mit dieser Diagnose haben Probleme damit, Impulse, Handlungen und Gefühle zu kontrollieren.
Etwa vier Wochen vor der Tat habe er angefangen, nur noch die halbe Dosis einzunehmen. Irgendwann habe er komplett auf die Einnahme verzichtet. Das geht aus einer Erklärung hervor, die er von seiner Verteidigerin vorlesen ließ. Das sei dumm gewesen, gibt er in einem Schreiben an das Opfer zu.

Mann wird nicht in Psychiatrie überwiesen: Tat als „Hilfeschrei“

Zunehmend habe er sich in der Einrichtung unwohl gefühlt. Eigentlich, so liest es seine Verteidigerin vor, hätte er den Wunsch gehabt, in eine Psychiatrie zu gehen. Der Leiter der Einrichtung hätte ihn zwar ernst genommen, aber vertröstet, weil kein Arzt anwesend war, der eine Überweisung hätte ausstellen können.
Die Drohungen im Vorfeld der Tat seien ein „Hilfeschrei, der von niemandem ernst genommen wurde“ gewesen. Zunächst hätte er nicht vorgehabt, jemandem tatsächlich etwas anzutun. Doch da er nicht die Hilfe bekam, die er sich wünschte, hatte er das Gefühl, ein Zeichen setzen zu müssen, damit alle sehen, wie schlecht es ihm geht. Am Tattag habe er dann die Kontrolle über sein Handeln verloren.

Angeklagter entschuldigt sich bei Opfer

Der Angeklagte lauscht still, wie seine Verteidigerin seine Erklärung verliest. Er „möchte sich von tiefstem Herzen entschuldigen“ und „übernimmt volle Verantwortung für sein Handeln“, erklärt die Anwältin in seinem Namen. In einem Schreiben an das Opfer habe er das bereits getan: „Ich hoffe und bete, dass du dieses schwere Trauma irgendwann überwinden kannst“ heißt es in dem Brief, der verlesen wurde.

Urteil soll bald fallen

Im weiteren Verlauf des Prozesses sollen Zeugen vernommen werden. Auch das Opfer wird aussagen. Ein Rechtsmediziner soll Auskunft geben, wie gefährlich der Angriff des Angeklagten tatsächlich war. Ein Sachverständiger wird dem Prozess beiwohnen und seine Einschätzung zum Zustand des Angeklagten geben. Am dritten Prozesstag, der für den 27. April 2023 angesetzt ist, soll bereits das Urteil fallen.

Verminderte Schuldfähigkeit

Die Schuld ist im Strafrecht die Voraussetzung für eine Strafe. In Deutschland sind Menschen ab 14 Jahren schuldfähig. Unter bestimmten Umständen kann ein Täter aber vermindert schuldfähig oder schuldunfähig sein.
Die möglichen Voraussetzungen für eine verminderte Schuldfähigkeit sind nach § 20 und 21 StGB krankhafte seelische Störungen, eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung, eine Intelligenzminderung oder eine andere seelische Störung. Dazu zählen beispielsweise psychische Erkrankungen, Neurosen, Erschöpfungszustände, Drogen- und Alkoholeinfluss.