Hoch droben auf einem Felssporn gelegen, thronen ihre Überreste wie die Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Von der Burgruine Hohenwittlingen gelingen auch heute noch atemberaubende Blicke in das Ermstal und lassen erahnen, warum die Grafen Achalm-Urach im späten 11. Jahrhundert einst beschlossen, gerade hier den Bau anzugehen. Der Standort erlaubte die Kontrolle der Tallagen und damit der dortigen Verkehrswege und hatte daher eine wichtige, strategische Bedeutung, ist sich Michael Kienzle sicher.
Der 31-jährige Historiker und Archäologe promoviert derzeit an der Universität Tübingen und widmet sich dabei den Burgen der Schwäbischen Alb. Über einen Zeitraum von zwei Jahren hat sich der gebürtige Nürtinger intensiv auch mit der Burg Wittlingen beschäftigt. Er tauchte ein in verschiedene Archive, er nahm die Gegebenheiten vor Ort und des Umlands in Augenschein und setzte moderne und neuartige Hilfsmittel ein. Professionell vermessen, liegt nun erstmals ein maßstabsgetreuer Plan der Burganlage vor. Zudem griff Kienzle auf sogenannte Lidar-Scans zurück. Mit ihrer Hilfe lässt sich Vegetation aus Luftbildern herausrechnen. Sichtbar wird das blanke Geländeprofil, samt etwaigen Auffälligkeiten. Eine Technologie, die erst seit Kurzem Einzug in die Archäologie gehalten hat und die nun ein der Anlage vorgelagertes Gelände offenbart, das Kienzle als burgeigene Wirtschaftsfläche identifiziert. „Eine Burg war nie nur ein reiner Wehrbau“, erklärt Kienzle, „vielmehr immer auch ein herrschaftspolitischer und ökonomischer Mittelpunkt“. Die Wittlinger und Hengener leisteten hier ihre Abgaben und Frondienste ab.
Auch den Bau selbst hat Kienzle untersucht, wobei nur der kleinste Teil der heute noch sichtbaren Gemäuer aus dem 11. Jahrhundert stammen. Die aktuelle Gestalt geht auf einen spätmittelalterlichen Umbau im 14. Jahrhundert zurück. Auf mindestens vier schätzt Kienzle die unterschiedlichen Bau- und Entwicklungsphasen der Burg. Aufmauerungen mit Tuffstein belegen zudem Anstrengungen im 19. und 20. Jahrhundert, die Anlage etwa durch einen Aussichtsplatz touristisch zu erschließen. Dabei, so bedauert er, seien viele Befunde zerstört oder bis zur Unkenntlichkeit verändert worden. Die große Quellenarmut, auch zum Alltagsleben auf der Burg, mündet oft im Reich der Spekulation.
Markstein der Landesgeschichte
Weniger auf Spekulation, denn auf mühevoller Detailarbeit beruhen hingegen Kienzles Forschungen zum Stellenwert der Burg im Lichte der württembergischen Landesgeschichte. Obwohl sich die Quellen teils widersprechen, kann davon ausgegangen werden, dass sie bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts im Besitz der Grafen von Urach war. Infolge der Schlacht im Ermstal 1235 aber, wurde sie zum Eigentum des Bischofs Eberhard von Konstanz. 1251 verkaufte er sie schließlich für 1100 Mark Silber an den Graf Ulrich I. von Württemberg.
Diesem Verkauf misst Kienzle hohe Bedeutung zu, sei er doch die Grundlage für einen lang andauernden, weit ausfächernden und wohl gut geplanten Ausgriff der württembergischen Herrschaft auf die Alb. „Die Burg hatte höchstwahrscheinlich einen enormen Stellenwert für die Entwicklung des württembergischen Territoriums“, fasst er seine Erkenntnisse zusammen. In der nachfolgenden Zeit sollte sich das Herrschaftsgebiet weiter in Richtung Teck, Gönningen oder bis ins Große Lautertal ausbreiten, wo die Württemberger erst bei Bichishausen durch die Habsburger gestoppt wurden.
Wie wichtig die Burg in der folgenden Zeit war, belegt auch der Friedensvertrag, geschlossen 1286 vor Stuttgart. Er zwingt Graf Eberhard von Württemberg dazu, König Rudolf neben der Burg Rems auch die Burg Wittlingen als Friedenspfand zu überlassen. 1298 bekam er sie wieder zurück, sie wurde wieder zu einem seiner Hauptstützpunkte und hielt 1311 auch den Angriffen der Habsburger stand. Erst im 16. Jahrhundert verlor sie ihre vormalige Stellung und diente ab 1548 dem Reformator Johannes Brenz als Zufluchtsstätte. Das aber ist eine andere, württembergische Geschichte.
Vortrag und Buchpräsentation am 2. September
Die Ergebnisse seiner interdisziplinären Forschung wird der Historiker und Archäologe Michael Kienzle am Samstag, 2. September während eines rund einstündigen, bebilderten Vortrags vorstellen. Beginn ist im Alten Schulhaus in Wittlingen, Zehntplatz 9, um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Im Rahmen dieses Vortrags wird sein rund 60-seitiges Buch „Die Burg Wittlingen – Ein „Schlüssel“ zu Württemberg?“ präsentiert. Es ist erschienen in der Reihe „Beiträge zur Bad Uracher Stadtgeschichte“ (Herausgeber Thomas Braun) und kann an diesem Abend zum Sonderpreis gekauft werden. Es ist sonst erhältlich im Bad Uracher Buchhandel. wag