Der Mordfall der zwölfjährigen Luise, die von zwei Mädchen ihres Alters erstochen wurde, schockiert die Welt. Auf den Sozialen Netzwerken werden die Täterinnen „Kinder-Killerinnen“ genannt. Es hat sich eine Diskussion darüber entwickelt, ob die Strafmündigkeit, die in eingeschränkter Weise ab 14 Jahren greift, auf ein jüngeres Alter herabgesetzt werden sollte.
Chance zur Besserung
„Das halte ich nicht für sinnvoll“, sagt Streetworkerin Lena Mispelhorn. „Das Ziel unseres Strafsystems ist die Chance zur Besserung. Anstatt junge Menschen zu verurteilen, sollten wir mit ihnen aufarbeiten, wie es dazu kommen konnte.“ Sie und ihr Kollege Gerhard Eppler sind das Team der Mobilen Jugendarbeit in Balingen. Diese besteht aus folgenden vier Bausteinen: aufsuchende Arbeit, Einzelfallhilfe, Gruppenangebote und Gemeinwesenarbeit.
Konkret bedeutet das, dass die Streetworker auf Jugendliche aktiv zugehen und das Gespräch suchen. In Form von Gruppenangeboten werden sichere Räume geschaffen und diverse Themen besprochen, wie etwa Make-Up und Social-Media-Filter beim „Girls Talk“ für alle Personen, die weiblich gelesen werden. Aus solchen Treffen ergeben sich häufig Einzelfälle, die persönliche Betreuung brauchen. Diese erfolgt durch beratende Gespräche oder die Vermittlung an andere soziale Einrichtungen. Das Angebot richtet sich an Jugendliche von 14 bis 26 Jahren, wird aber vor allem von 15- bis 18-Jährigen in Anspruch genommen. Die vier Bausteine der mobilen Jugendarbeit sollen Jugendliche auffangen und Prävention ermöglichen, damit es nicht zur Eskalation wie im Mordfall „Luise“ kommt.
Verantwortung liegt bei den Erziehungspersonen
Gewalt kann sich in körperlichen und psychischen Angriffen äußern. Maßgebend ist dabei das persönliche Empfinden des Angegriffenen darüber, wann eine Grenze überschritten ist. Außerdem unterscheidet man zwischen aktiver – ausgeübt durch den Täter – und passiver – erfahren durch das Opfer – Gewalt.
Die Erkenntnis der Streetworker ist sehr ernüchternd: Jeder einzelne Jugendliche hat bereits passive Gewalt erfahren. „Es gibt kein Leben ohne Gewalt“, sagt Eppler. Die meisten Erfahrungen dieser Art finden zu Hause statt. „Beispielsweise schlagen einige Eltern ihre Kinder oder sperren sie zu Hause ein“, berichtet er. In den letzten Jahren hat sich dies verschärft. Logischerweise gab es zu Hause öfter die Gelegenheit, da die Familien auch öfter zu Hause waren. Corona sei nicht der Auslöser, habe aber vieles verstärkt. All das passiere häufig aus Überforderung heraus – mit gravierenden Folgen für das Kind, aber auch für die Gesellschaft. „Jugendliche erlernen ihr Verhalten vor allem durch Menschen in ihrem Umfeld“, so Eppler. Häusliche Gewalt erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kinder entsprechend ihrer Vorbilder verhalten. Damit sei klar: „Die Verantwortung liegt bei den Erziehungspersonen.“
Nachvollziehbare Regeln und Begegnung auf Augenhöhe
Maßgeblich ist hierbei auch die Qualität der Beziehungen, die das Kind oder der Jugendliche zu den Bezugspersonen hat. „Sie wollen von ihrem Gesprächspartner gesehen werden“, erklärt Mispelhorn. Dazu gehöre die Begegnung auf Augenhöhe. Elementar notwendig seien aber auch Grenzen, klare Strukturen und ein geregelter Tagesablauf. Für viele Eltern umreißt das eine Gratwanderung, die nicht immer einfach zu meistern ist. „Eltern müssen in ihrer Rolle bestimmen und Regeln vorgeben“, so Mispelhorn. „Wichtig ist nur, dass diese Regeln nachvollziehbar sind.“ Das Erklären sei vielleicht mühsam, aber sehr wichtig in diesem Zusammenhang.
Auch das Helikopterelterntum sei problematisch. „Es sollte nicht das Ziel sein, Jugendliche vor Gewalt zu schützen, sondern ihnen beizubringen, wie sie richtig damit umgehen“, stellt Eppler klar. Eine positive Nachricht ist, dass Jugendliche seltener zu aktiver Gewalt neigen, als man annehmen könnte. Grundsätzlich gilt, dass in Deutschland jeder ein Recht auf Hilfe zur Erziehung hat. Die Jugendlichen bräuchten die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen zu reden „und wenn das nicht mit den Eltern geht, dann muss ihnen erlaubt sein, mit anderen zu sprechen“, so Mispelhorn. „Es geht nicht um Schuld, sondern darum, dass wir unsere Bedürfnisse gegenseitig ernst nehmen, um gut miteinander leben zu können.“
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Nathalie Heist arbeitet seit zehn Jahren als Tagesmutter in Bisingen. Fünf Kinder betreut sie jeden Tag in ihrem eigenen Haus. Wie sieht ein typischer Vormittag aus? Ein Besuch bei den „Kleinen Strolchen“. Lesen Sie hier mehr dazu: