Diese Zahlen erschrecken. 2018 waren es 111 erfasste Fälle, 2019 dann 131. Im Jahr 2020 schon 203, im Jahr 2021 bereits 365 und im vergangenen Jahr sogar 385. Ein enormer Anstieg also in den vergangenen fünf Jahren – es geht um Verbreitung, Erwerb, Besitz oder Herstellung von Kinderpornografie im Bereich des Polizeipräsidiums Reutlingen.
Die Entwicklung spiegelt sich auch in den einzelnen Landkreisen wider, wo die „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ überall tendenziell kräftig angestiegen sind. Dabei hatte der Zollernalbkreis im vergangenen Jahr insgesamt den größten Anstieg zu verzeichnen: Neben signifikanten Anstiegen bei den Vergewaltigungen und den sexuellen Übergriffen war die stärkste Zunahme bei den sexuellen Belästigungen zu finden.
Und über mehrere Jahre betrachtet, eben auch bei der Verbreitung pornografischer Schriften. Dies sind die Fallzahlen: Sie stiegen von 15 (2018) über 29 (2019) und 56 (2020) auf 74 (2021) und sogar 84 im vergangenen Jahr.
Was hinter dem Anstieg der Fälle steckt
Das bedeutet allerdings nicht, dass es mehr Taten gibt als früher – Polizei und Justiz betonen, dass mehr Fälle gemeldet werden und auch mehr ermittelt wird. Lutz Jaksche vom Polizeipräsidium Reutlingen erläutert einen möglichen Hintergrund der gestiegenen Zahlen: „Über Messenger-Dienste, Soziale Medien oder andere Plattformen können pornografische Abbildungen – auch Kinder- und Jugendpornografie – einfach verbreitet werden“. So kann es zu vielen Beschuldigten kommen: Die Weiterverbreitung eines Bildes kann rasch Dutzende Anzeigen nach sich ziehen.
Viele deutschen Behörden haben aufgrund der zahlreichen Fälle mit langen Verfahrensdauern zu kämpfen. Die Auswertung der Smartphones und anderer elektronischer Geräte bringt die Polizei an ihre Grenzen, zumal schon das „Knacken“ der Handys, also das Entsperren, oft aufwendig sei. Lutz Jaksche bestätigt, „dass die Ermittlungen im Bereich Kinder- und Jugendpornografie sowohl technische als auch personelle Herausforderungen mit sich bringen“.
Die Tatverdächtigen besitzen oftmals große Datenmengen an kinder- und jugendpornografischen Materials, die von der Polizei gesichert, aufbereitet und ausgewertet werden müssen, erläutert Jaksche. „Um dies zu ermöglichen, benötigt die Polizei zunächst die entsprechende IT-Infrastruktur mit leistungsfähiger Hard- und Software.“
Viele jüngere Verdächtige
Hinzu komme, dass die Fotos und Videos von den Ermittlerinnen und Ermittlern hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Relevanz überprüft werden müssen. „Hier gilt es, unter anderem anhand der gesicherten Bild- und Videodateien festzustellen, ob die/der Tatverdächtige selbst sexuelle Handlungen an Kindern und/oder Jugendlichen vorgenommen hat.“ Der Sprecher betont: „Die Ermittlungen in diesem Deliktsbereich stellen hohe Anforderungen an die psychische Belastbarkeit der Beamtinnen und Beamten.“
Wer die Statistik mit den Tatverdächtigen von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung betrachtet, dem fällt auf, dass es einen überproportional hohen Zuwachs von Kindern und Jugendlichen unter den Verdächtigen gibt. „Diese Entwicklung dürfte auf die Verbreitung von pornographischen Schriften zwischen Kindern und Jugendlichen über Soziale Medien, zum Beispiel innerhalb von WhatsApp-Gruppen, zurückzuführen sein“, teilt das Polizeipräsidium Reutlingen dazu mit.
Ein wesentlicher Anteil der Entwicklung lasse sich sicherlich auch auf die Zunahme der Verdachtsfälle zurückführen, die aus den USA vom National Center for Missing an Exploited Children (NCMEC) an das Bundeskriminalamt gemeldet werden, sagt Jaksche. Das NCMEC ist eine halbstaatliche gemeinnützige US-Organisation, die online, vor allem in Sozialen Medien, Fälle ermittelt und standardisierte Berichte an die Polizei schickt: mit IP-Adressen, Zeit und Ort. Diese Informationen führen nicht unbedingt zu Tätern, manchmal handelt es sich auch um gehackte Konten – aber ermittelt werden muss immer. Und immer mehr.
Informationen aus den USA
Wurden vom NCMEC 2021 noch 2825 Verfahrenshinweise an das Landeskriminalamt Baden-Württemberg weitergeleitet, waren es im vergangenen Jahr bereits 7767. All diesen Hinweisen muss nachgegangen werden: „Die Meldungen werden in weiten Teilen an die jeweils örtlich zuständigen, regionalen Polizeipräsidien weitergegeben“, sagt Jaksche, „weshalb sich dies auch auf die Fallzahlen des Polizeipräsidiums Reutlingen im Bereich Kinder- und Jugendpornografie auswirkt.“
In dem Zusammenhang ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Staat das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder seit Juli 2021 verschärft hat. Juristen kritisieren dabei die pauschale Verschärfung, denn seitdem müssen auch minderschwere Taten automatisch als Verbrechen geahndet werden – die Mindeststrafe beträgt nun ein Jahr, die Höchststrafe zehn Jahre.
Das Polizeipräsidium Reutlingen hat die „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ zum Schwerpunktthema gemacht.
Was Eltern wissen sollten
Wenn Eltern feststellen, dass auf dem Handy ihres Kindes Missbrauchsdarstellungen gespeichert sind, müssen sie sich ohne Umwege an die Polizei wenden. Das betont der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes, Daniel Grein. Das sei nicht nur ein Gebot des Strafrechts, sondern auch des Kinderschutzes. Denn die Betroffenen müssten Hilfe erfahren, „und das funktioniert nur, wenn die Polizei sofort tätig werden kann“.
Keinesfalls sollten sie Bilder weiterverbreiten, auch nicht an andere Eltern oder Lehrkräfte. Denn seit der Gesetzesverschärfung aus dem Jahr 2021 müssen beispielsweise auch Eltern, die solche Bilder zu Demonstrationszwecken etwa in einer Chatgruppe weiterleiten, mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr rechnen.