Frau Q. (Name von der Redaktion geändert) ist arm. Die alleinerziehende Mutter lebt mit ihrem achtjährigen Kind in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Göppingen. Sie ist seit 16 Jahren arbeitslos. Miete und Nebenkosten werden vom Jobcenter übernommen. „Außerdem bekomme ich monatlich 131 Euro, ebenfalls vom Jobcenter, dazu kommen 192 Euro Kindergeld und 291 Euro Unterhalt“, zählt die Frau auf. „Am Ende des Monats wird es immer megaknapp“, lacht Frau Q. bitter.
Zusammengerechnet hat Frau Q. im Monat 614 Euro zur Verfügung. Damit fällt sie unter die Armutsgrenze. Arm ist, laut dem Anfang März erschienenen Armutsbericht der Paritätischen Wohlfahrtsverbände, wer von unter 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens leben muss. Das Statistische Landesamt geht sogar noch einen Schritt weiter. Arm ist, „wer gar kein oder kein ausreichendes Einkommen zur grundlegenden Existenzsicherung durch eigene Erwerbstätigkeit erzielen kann“. Im Landkreis Göppingen sind das über 10 700 Personen. Das entspricht einer Quote von 5,4 Prozent. Für ganz Baden-Württemberg liegt diese Quote bei 9,3 Prozent und auch diese liegt noch unter dem Bundesdurchschnitt. „Wenn man den relativen Armutsbegriff zugrunde legt, gelten alle Bezieher einer Mindestsicherungsleistung als arm“, erklärt Rudolf Dangelmayr, Leiter des Sozialamtes in Göppingen. Eine Mindestsicherungsleistung ist beispielsweise „Hartz IV“, das offiziell „Arbeitslosengeld II“ heißt. Familien werden zusammengefasst in sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Ende 2015 gab es über 5500 solcher Bedarfsgemeinschaften im Landkreis. Das waren 55 mehr als im Vorjahr.
Eine dieser Bedarfsgemeinschaften sind Frau Q. und ihr Kind. „Ich habe Probleme damit zuzugeben, dass ich Hartz IV bekomme“, erzählt sie. Sie gerate immer wieder in Situationen, in denen sie sich durch ihre Armut beschämt fühle. Entrüstet berichtet sie darüber, wie sie an einer offiziellen Stelle ein Formular abholen sollte, aber das Geld für den Bus nicht aufbringen konnte. „Da sagten die zu mir: Sie sind doch arbeitslos und haben Zeit, laufen sie doch einfach her!“ Auch Doris Müller schüttelt darüber den Kopf. Die Sozialpädagogin arbeitet bei der Diakonie Göppingen. „Ich biete in einer offenen Sprechstunde Sozial-, Familien- und Lebensberatung an“, erklärt sie. Es sind Fälle wie Frau Q., die den Weg in ihre Sprechstunde finden, weil sie nicht mehr weiter wissen. „Zur allergrößten Not geben wir auch Lebensmittelgutscheine aus“, erklärt Müller.
Im Wesentlichen gehe es aber um Schuldnerberatung oder Hilfe beim Ausfüllen der komplizierten Formulare der Arbeitsagentur. „Oft geht es auch um solche Dinge, wie eine anstehende Stromsperre, dann müssen wir mit der ENBW verhandeln“, berichtet Müller. Für die offene Sprechstunde stehen ihr drei Stunden zur Verfügung. Manchmal stünden bis zu 14 Hilfesuchende vor ihrer Bürotüre.
„Vor allem alleinerziehende Mütter haben schwer zu kämpfen“, betont Müller, „aber zunehmend sind es auch Rentner, denen ihr Geld nicht mehr reicht.“
Frau Q. hat die Hauptschule ohne Abschluss verlassen. Den Abschluss hat sie zwar später nachgeholt, aber eine Berufsausbildung hat sie nie gemacht. Sie hat früh geheiratet und früh ihr erstes Kind bekommen. Nachdem sie ihren Job als ungelernte Arbeitskraft in der Fertigung eines Göppinger Betriebs verloren hatte und geschieden worden war, bekam sie psychische Probleme. Sie gehört damit gleich zu zwei Risikogruppen, die der Armutsbericht als besonders gefährdet ansieht: Alleinerziehende und Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau. Die Versorgung ihres Kindes bereitet ihr große Probleme. „Eine Zahnspange könnten wir uns gar nicht leisten“, sagt sie. Und die Brille ihres Kindes sei nur wegen des freundlichen Entgegenkommens des Optikers möglich gewesen. „Wenn ich Kleider kaufe, dann muss ich bei den Lebensmitteln sparen“, berichtet sie.
„Armut ist ein zu komplexes Phänomen, um es allein mit Geld zu bekämpfen“, meint Friedrich Kauderer, Geschäftsführer der Diakonie in Göppingen. Es gehe um die Inklusion einer ganzen Bevölkerungsgruppe, die vom wirtschaftlichen Aufwärtstrend ausgeschlossen sei. Die meisten Hilfesuchenden kämen wegen finanzieller Nöte zu den Bera­tungsstellen der Diakonie und der Caritas, erzählt Sabine Stövhase, Leiterin des Caritas-Zentrums in Göppingen. „Aber aus diesen erwachsen in der Folge oft psychische Belastungen, familiäre Spannungen und Krankheit“, erzählt Stövhase. Kauderer und Stövhase betonen, dass es ihnen große Sorgen bereite, dass fast 3000 Kinder im Landkreis in Armut aufwüchsen.
„Armut vererbt sich“, meint Friedrich Kauderer. Denn Kindern aus armen Familien bleibe vieles an Bildung vorenthalten, was Kindern der Mittelschicht offen stehe. „Arme Eltern haben kein Auto, um ihre Kinder kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, zum Instrumentenunterricht oder zum Sport, den sie sich auch nicht leisten können“, erklärt Kauderer.
Es seien tatsächlich rund 3100 Kinder, die im Landkreis Göppingen in armen Familien aufwüchsen, bestätigt der Leiter des Sozialamtes, Rudolf Dangelmayr. Insgesamt beobachte er aber eine eher positive Entwicklung. „Die Wirtschaftslage in der Region Göppingen ist seit Jahren sehr stabil und bietet gute Beschäftigungsbedingungen“, meint Rudolf Dangelmayr.

Baehrens und Färber zum Armutsbericht

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Hermann Färber findet den Armutsbericht unredlich. „Der Vorwurf der wachsenden Ungerechtigkeit beruht auf einigen statistisch unredlichen Tricks“, findet er und erklärt: „Wenn wir beispielsweise die Situation in Göppingen betrachten, dann zählen nämlich zu den Empfängern von Mindestsicherungsleistungen unter anderem zahlreiche der 2950 Studenten, die an den beiden Hochschulen in Esslingen studieren und Bafög erhalten.“ Insgesamt sieht auch er eine eher positive Entwicklung. „Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit auf dem niedrigsten Stand seit einem Vierteljahrhundert, im Landkreis Göppingen mit lediglich vier Prozent enorm unter dem bundesweiten Durchschnitt.“
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Heike Baehrens ist vom Fach. Bevor sie Politikerin wurde, war sie von 1996 bis 2013 Geschäftsführerin im Diakonischen Werk Württemberg. Sie höre bei Unternehmensbesuchen im Landkreis immer wieder, dass die Betriebe keine qualifizierten Arbeitskräfte fänden. „Wenn wir hier im Kreis mehr offene Stellen als Menschen ohne Arbeit haben, dann zeigt das, wie wichtig es ist, Arbeitssuchende zu qualifizieren damit sie den Anforderungen des Arbeitsmarktes gewachsen sind“, erklärt Heike Baehrens.