Der Führerschein bedeutet Mobilität, bedeutet Freiheit, bedeutet Stolz. Senioren den „Lappen“ wegnehmen – da hat sich die EU an ein heikles Thema gewagt. Gerade im Autoland Deutschland kommt dieser Vorschlag nicht gut an. „Nach geltendem Recht ist das diskriminierend“, sagt Josef Weiß. „Fahrtauglich sind nach Straßenverkehrsgesetz Menschen, die die körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen – von einer Altersbegrenzung steht da nichts.“
Weiß, Vorsitzender des Kreisseniorenrats Zollernalb, hält absolut nichts vom Vorstoß der EU-Kommission. Dieser sieht vor, dass Verkehrsteilnehmer ab 70 Jahren alle fünf Jahre ihre Fahrtauglichkeit nachweisen müssen. Viele Politiker haben diesen Vorschlag bereits kritisiert, auch der Schömberger Weiß sieht das Vorhaben als pauschalisierend an: 99 Prozent der Autofahrer ab 70 würden unter Generalverdacht gestellt, „obwohl eventuell nur ein Prozent fahruntauglich ist. Der EU-Vorschlag ist komplett unverhältnismäßig.“
Rechte von Ärzten stärken
Der Kreisseniorenratsvorsitzende betont, dass Verkehrssicherheit an oberster Stelle steht. Diese zu erhöhen, sei richtig. Eine verpflichtende Prüfung alle fünf Jahre sei jedoch definitiv der falsche Ansatz. Für Weiß wäre es sinnvoller, die Rechte von Ärzten zu stärken. Denn diese untersuchen Seniorinnen und Senioren ohnehin auf deren körperlichen und geistigen Zustand und könnten daher am besten feststellen, wer noch hinter einem Steuer sitzen sollte und wer nicht. „Dann würde man genau dieses eine Prozent der gefährlichen Autofahrer kontrollieren, ohne allen anderen ihre Fahrtauglichkeit abzusprechen.“
Dieser altersbedingte Generalverdacht der EU ist der größte Aufreger für Ansprechpartner im Zollernalbkreis. „Manche Senioren sind mit 70 topfit; andere können sich kaum noch bewegen“, sagt Stefan Roth. Der 53-Jährige aus Albstadt ist der Vorsitzende des Fahrlehrerverbands im Zollernalbkreis. Ein gutachterliches Attest über körperliche und geistige Gesundheit der Menschen geht ihm viel zu weit. Dennoch: Roth könnte sich beispielsweise verpflichtende Sehtests alle fünf Jahre vorstellen. „Im Alter lässt die Sehkraft eben nach. Für Lastwagen- und Busfahrer ist das längst Pflicht. Egal, ob sie 25 oder 55 Jahre alt sind.“
Mit der Technik überfordert
Der Fahrlehrer aus Ebingen bringt zudem noch einen weiteren Aspekt in die Diskussion. „Dass Senioren mit dem Straßenverkehr an sich überfordert sind, sehe ich nicht. Aber mit dem Fahrzeug selbst und der modernen Technik dagegen schon.“ Abstandsregler, Tempomat, Bedienung per Touchscreen – sich über die Assistenzsysteme in ihren Autos zu informieren, da sieht Roth Senioren in der Pflicht. „Ein Autoverkäufer zeigt zwar, wie man die Systeme bedienen muss, aber er ist kein Lehrer. Fahrlehrer dagegen können das so erklären, dass ältere Menschen die moderne Technik wirklich verstehen.“
Dass die EU mit dem Gesetzesentwurf nun eine verpflichtende Kontrolle vorschlägt, könnte auch darin begründet sein, dass Freiwilligkeit beim Thema Verzicht auf den Führerschein wenig Erfolg zeigt. Das hat auch das Land Baden-Württemberg mit seiner Initiative „Bus und Bahn statt Führerschein“ feststellen müssen. Senioren im Alter ab 65 Jahren können den Führerschein freiwillig abgeben und dafür ein Jahr lang kostenlos mit Bus und Bahn fahren. Ein Angebot, das kaum auf Interesse gestoßen ist. Auch, weil der ÖPNV keine echte Alternative ist. „Nach Balingen kommt man ja ganz gut, aber wenn man sich im gesamten Zollernalbkreis bewegen möchte, wird’s schwierig“, sagt der Schömberger Weiß. „Wenn man seine bisherige Mobilität beibehalten möchte, ist man also oft aufs Auto angewiesen.“
Umsetzung würde Wähler vergraulen
Fahrlehrer Stefan Roth glaubt ohnehin nicht, dass der EU-Vorstoß in Deutschland umgesetzt. Zumindest nicht, wenn die EU die Länder selbst entscheiden lässt. „Da würden die Parteien, die für die Fahrtauglichkeitschecks sind, viele Wähler verlieren.“ Nur wenn die EU ihre Idee als Gesetz verabschiedet, „können sich die Parteien dahinter verstecken“.
Und auch Josef Weiß sieht den EU-Vorstoß trotz seiner Kritik entspannt. Er hält sich an eine Aussage von Winfried Kretschmann: Bis ein EU-Vorschlag nationales Recht wird, vergehen zehn Jahre.
30 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle verursacht
„Beim Blick auf die Unfallbeteiligung von Seniorinnen und Senioren fällt auf, dass diese gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil (21 Prozent) überproportional stark bei schweren Verkehrsunfällen vertreten sind.“ Das erklärt das Polizeipräsidium Reutlingen auf Anfrage der Südwest Presse. Im vergangenen Jahr wurden demnach 30 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle durch Seniorinnen und Senioren verursacht (landesweit).
40 Prozent der bei Verkehrsunfällen Getöteten in Baden-Württemberg waren im vergangenen Jahr im Seniorenalter (139 von 350 Getöteten). Zwei Drittel dieser getöteten Seniorinnen und Senioren waren 75 Jahre oder älter (91 Getötete). 62 Prozent der Verkehrsunfälle insgesamt, an denen Seniorinnen und Senioren im vergangenen Jahr beteiligt waren, wurden durch sie verursacht. „Dabei kann festgestellt werden, dass die Verursacherquote bei Verkehrsunfällen mit zunehmendem Alter steigt“, erklärt die Polizei. Alle Unfälle – also nicht nur schwere – betrachtet, sind Autofahrer ab 70 Jahren für etwa 15 Prozent verantwortlich.