Linker Socken an, rechter Socken an, Reißverschluss an der Hose öffnen, Hose hochziehen und Reißverschluss wieder schließen. Sich anzuziehen, ist für die meisten Menschen Routine. Doch für manche kann diese alltägliche Aufgabe eine echte Herausforderung sein. Für Kinder mit ADHS ist es das. „Da hilft es, jeden Schritt einzeln zu erklären und die Kleidungsstücke morgens in die richtige Reihenfolge zu legen“, sagt Nicole Schmidt. Praktische Tipps für einen Alltag voller Herausforderung.
So sieht es die 44-jährige Tailfingerin und dreifache Mutter. Bei ihrem Sohn wurde ADHS diagnostiziert, als er in die erste Klasse ging. „Nach drei Wochen wurden wir bereits zum ersten Elterngespräch gerufen. Der Lehrer meinte, unser Sohn sei unorganisiert und unaufmerksam – und wir dachten: Es ist die erste Klasse, was erwartet der Lehrer?“ Schmidt ist selbst gelernte Erzieherin, arbeitete zehn Jahre in der Lebenshilfe Zollernalbkreis und hat dementsprechend Vorkenntnisse im sozialen Bereich. „Aber beim eigenen Kind fehlt einem die professionelle Distanz.“

„Eine andere Art, die Welt wahrzunehmen“

Doch die Tailfinger Familie hat schnell einen offenen Umgang mit der neurobiologischen Störung gefunden. Ganz wichtig: Dieses Anderssein des Kindes nicht als Defizit ansehen, „sondern als andere Art, die Welt wahrzunehmen“, sagt Schmidt. „Kinder, beziehungsweise auch Erwachsene mit ADHS sind oft unglaublich kreativ und künstlerisch begabt. Man muss die Stärken des Kindes sehen; nicht nur die Schwächen.“

Auf den Eltern lastet viel Druck

Das bedeutet keinesfalls, dass dies der Mutter bei ihrem heute 13-jährigen Sohn jeden Tag gelingt. Der Druck auf die Eltern ist groß – man erwischt sich dabei, wie man das Kind kritisiert: Warum kannst du das immer noch nicht? Oder: Was kann man selbst anders tun? Damit Eltern mit Kindern mit ADHS mit diesen Fragen nicht alleine sind, hat Nicole Schmidt 2018 eine Selbsthilfegruppe gegründet. Es ist ein Raum für Eltern, in dem sie offen und ehrlich über ihre Probleme sprechen können. Treffen, bei denen sich die Eltern viel Verständnis entgegenbringen – und wo keine Klischees vorherrschen. „Viele denken bei ADHS immer noch an einen Zappelphilipp. Das ist stigmatisierend und wird dem Krankheitsbild überhaupt nicht gerecht“, sagt Schmidt.
Stigmatisierend sind auch falsche Annahmen: Beispielsweise, dass Kinder mit ADHS über Medikamente ruhig gestellt werden. „Die Medikation befeuert die Synapsen sogar“, erklärt Schmidt. „Sie helfen den Kindern dabei, sich fokussieren und konzentrieren zu können. Nicht dabei, ruhig zu sein. Das ist ein Unterschied.“ Im Gegenteil: Lässt die Wirkung der Medikation nach, tritt ein Rebound-Effekt ein. Die Kinder werden abends nochmal aktiver – die Eltern erhalten kaum Ruhephasen.

Anspruch auf Pflegegrad und Fahrdienste

Strenger und konsequenter sein? Der falsche Weg. „Kinder mit ADHS lassen sich nicht so einfach kleinkriegen. Dieser Eigensinn ist eine Veranlagung“, sagte Heike Hahn, Autorin des Ratgebers „Mein Kind hat ADHS“ in einem SÜDWEST PRESSE-Interview. Eltern werden oft missverstanden und hoffen darauf, dass man sie versteht. „ADHS ist nichts Anerzogenes und auch keine Entscheidung des Kindes“, betont Nicole Schmidt. Eine Aufmerksamkeitsdefizit- (ADS) oder Hyperaktivitätsstörung (ADHS) „verwächst“ sich auch nicht, sondern Betroffene finden Wege, damit im Alltag umzugehen.
Für dieses Verständnis setzt sich die Tailfingerin mit der Selbsthilfegruppe ein. Ebenso wichtig: In dieser Gruppe können Eltern Wissen austauschen. Denn es sind nicht nur emotionale Aspekte, sondern oft auch bürokratische. „Eltern mit Kindern mit ADHS haben einen deutlichen Mehraufwand und somit einen Anspruch auf Pflegegrad“, sagt Schmidt. Das sei vielen Betroffenen nicht bewusst und wird auch von Krankenkassen und anderen Ansprechpartnern selten proaktiv kommuniziert. Mit der Diagnose und dem entsprechenden Pflegegrad erhalten Eltern nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch Hilfe wie Fahrdienste.

Diagnose oft nach dem Schuleintritt

Doch wie können Eltern erkennen, ob ihr Kind eine Störungsauffälligkeit hat? Das Wippen mit dem Fuß, das Knacken mit den Fingerknöcheln – das können Anzeichen sein. „Es sind exekutive Körperfunktionen und ein Ventil, um mit der inneren Anspannung klarzukommen“, sagt Schmidt. Allerdings machen das viele Menschen. Daher ist folgende Definition hilfreicher: Impulskontrolle, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsspanne – wenn in mindestens zwei dieser Bereiche ein Lebensbereich wie Schule, Zuhause oder Arbeit beeinträchtigt sind, besteht eine Problemlage. Oft werden ADS und ADHS bei Kindern kurz nach dem Schuleintritt diagnostiziert.
Um die Eltern zu entlasten, endet jedes Treffen der Selbsthilfegruppe mit einer Aufgabe: Die Eltern sollen sagen, was an ihrem Kind toll und schön ist – und auch mitteilen, was sie selbst als Elternteil leisten. „Denn viele haben einen langen, anstrengenden Weg hinter sich“, sagt Nicole Schmidt. „Auf das Erreichte sollen sie stolz sein.“
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Offener Austausch und Fachvorträge

Die Regionalgruppe Zollernalb der Selbsthilfegruppe für Eltern mit Kindern mit ADHS trifft sich einmal im Monat, ab sofort im evangelischen Gemeindehaus in Tailfingen (Am Markt 14). Einen festen Termin gibt es nicht, sondern nach Absprache. Organisiert werden auch Vorträge, immer zu bestimmten Themen wie beispielsweise ADHS und Schule, ADHS und Medikation. Wer Interesse hat und sich informieren möchte, kann sich bei Nicole Schmidt unter Telefon (07432) 90 75 409 oder per E-Mail an [email protected]