Der Tatort, von dem Bilder um die ganze Welt gingen, ist schon lange nicht mehr wiederzuerkennen. Tagelang war die Albertville-Realschule (ARS) in Winnenden nach dem Amoklauf des Tim K. im März 2009 Treffpunkt eines internationalen Medien-Aufgebots.

Teurer Umbau als Zeichen

Als die Polizei abgezogen war, wurden die Türen verriegelt, der Unterricht fand in Containern statt. Weil ein Abbruch der Schule auch als eine Art Sieg des Schützen hätte interpretiert werden können, wurde das Gebäude für 6,3 Millionen Euro innen und außen gründlich umgebaut. Irgendwie muss es ja weitergehen, auch nach so einer Tat. Nur wie? „So etwas Endgültiges wie ein Amoklauf, das ist nicht begreifbar“, sagt Sven Kubick, Rektor seit 2010.

Umgestaltung zum Gedenkraum

Das Klassenzimmer, in dem fünf Mädchen und ein Junge starben, wurde mit Hilfe von Experten aus dem Haus der Geschichte in Stuttgart in einen Gedenk­raum umgewandelt. Auf 15 kniehohen Pulten erinnern Namen, Fotos und persönliche Gegenstände wie Kuscheltier, Fahne, Ball, Blumen, Kerzen, Herzen an die Opfer. An einer weißen Wand steht: „11.03.2009, 9.33 Uhr-“, der Tag des Verbrechens und der Zeitpunkt des ersten Alarms bei der Polizei. Auf einer Seite sind Arbeiten der Schüler erhalten, darüber das Kleiner-Prinz-Zitat von Antoine de Saint-Exupéry: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

Bibliothek als Lebensraum

Der Raum, in dem der minderjährige Mörder innerhalb von 15 Sekunden drei Schülerinnen erschossen hat, ist jetzt eine Bibliothek. In einem Regal stehen auch Bücher mit Beileidsschreiben aus vielen Ländern. Die Bücherei soll nicht nur genutzt werden zum Lesen und Lernen, sie soll verstanden werden „als Lebensraum, in welchem Gespräche geführt, Spiele gespielt oder Referate vorbereitet werden“.

Verstärkte Sicherheit

Im ehemaligen Chemiesaal, wo die Tür einer Lehrerin keinen Schutz vor den großkalibrigen Kugeln bieten konnte, produzieren Schüler aller Klassen in der LernfirmaKlamottenkiste“ T-Shirts, erledigen Druckaufträge, rösten Kaffee. Sehr beliebt sind die Kapuzenpullover mit dem optimistischen Motto: „Ich lebe meinen Traum.“
Heute unterrichten an der Schule, die nach der französischen Partnerstadt Albertville benannt ist, 40 Lehrkräfte 656 Schüler. Zehn Pädagogen waren „damals“ schon dabei. Auf die Sicherheit wurde größter Wert gelegt. Jedes Klassenzimmer ist mit kugelsicheren Türen ausgestattet. Sie lassen sich abschließen mit einem zentralen System, damit niemand mehr von außen eindringen kann. In jedem Raum gibt es einen Alarmknopf, den Lehrkräfte mit einem speziellen Chip aktivieren können.
Die ARS-Philosophie wird auf der Homepage erklärt: „Im Zusammenleben der Schulgemeinschaft üben alle Mitglieder Rücksicht und Toleranz. Ein konstruktives Zusammenwirken aller am Schulleben Beteiligten führt zu einer positiven Lern- und Arbeitsatmosphäre.“
Die ARS sei heute „eine sehr gut akzeptierte Schule mit hohen Anmeldezahlen“, erklärt Sven Kubick. Es bestünde „großes Vertrauen in die pädagogische Arbeit“, wozu viele soziale Projekte gehörten, die nach dem Amoklauf entstanden. Schüler sollen lernen, Verantwortung für andere zu übernehmen. Ein „Raufclub“ ist Teil des Präventionsprogramms. Das Kräftemessen ist erlaubt, solange es fair bleibt. Dazu passt auch Capoeira, die aus Brasilien stammende Kombination aus Kampf, Musik, Akrobatik und Spiel. Einen wichtigen Beitrag zur Geborgenheit leistet auch Brunhilde, die Labradorhündin der Sozialarbeiterin Rosalie Belz.

200 Anrufer melden 2015 Verdächtiges

Für Gisela Mayer, deren Tochter, eine angehende Lehrerin, zu den Mordopfern gehört, werden am zehnten Jahrestag keine Wunden aufgerissen: „Der Schmerz ist jeden Tag da.“ Positiv bewertet sie die Arbeit der von ihr mitgegründeten „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“, die ein umfangreiches Präventionsangebot erarbeitet hat. Zusammen mit der Uni Gießen wurde ein Beratungstelefon für verdächtige Wahrnehmungen eingerichtet. Seit 2015 gab es mehr als 200 Anrufe, bei 80 Prozent erwiesen sich die Überprüfungen als sinnvoll.
Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth (CDU), der sein Amt im April 2010 angetreten hat, stellte in der Stadt mit 28.500 Einwohnern „einen großen Zusammenhalt“ fest. Dieser sorge dafür, dass über alle Gruppierungen hinweg die Verbundenheit viel stärker wahrgenommen werde als dies früher der Fall gewesen sei.
Wie dünn das Eis in Winnenden noch immer ist, zeigt ein Vorfall im Oktober 2018. Eine Patientin des Zentrums für Psychiatrie wollte einen Mann mit einer Waffe gesehen haben. Die Polizei riegelte das Gelände ab, begleitete Schüler aus dem Bildungszentrum zu ihren Eltern. „Alles war wieder da“, sagte eine Mutter, „die marternde Ungewissheit, die wahnsinnige Sorge.“ Sie hatte vor zehn Jahren ihre Tochter verloren, heute besuchen deren Bruder und Schwester die ARS. Beide seien dort „gut aufgehoben“, erzählte sie der Lokalzeitung, „die Schule kümmert sich wirklich um die Kinder.“

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Verbesserte Prävention

Das Kultusministerium hat nach dem Amoklauf von Winnenden die Angebote zur Unterstützung der Schulen erheblich ausgebaut. Damit soll die Vorbereitung auf Krisensituationen und Gefahrenlagen ermöglicht werden, um angemessen reagieren zu können. Die Zahl der Schulpsychologen wurde erhöht. Sie beraten Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen. Überall gibt es Beratungslehrkräfte. Sie sind gefragt bei Leistungsschwächen, Motivationsproblemen, Aufmerksamkeitsstörungen und Aggressionen.
Jede Schule muss ein Krisenteam für „Gewaltvorfälle und Schadensereignisse“ bilden. Für ein direktes Alarmsystem wurden Pager beschafft. Damit kann vor einem Amoklauf oder der Flucht des Täters gewarnt werden.
Das Landesmedienzentrum hat darüber hinaus die medienpädagogische Erziehung und Präventionsarbeit ausgebaut. hgf