Wenn Sabine Rückert in ein Mikrofon spricht, hören oft mehr als eine Million Menschen zu. Zeitversetzt, denn die Vize-Chefredakteurin der „Zeit“ zählt zu den erfolgreichsten Podcasterinnen und Podcastern Deutschlands. Rückert hat zu Justizirrtümern recherchiert, Mörder interviewt und mit dem Podcast „Zeit Verbrechen“ einen Hype ausgelöst. Im Forum der SÜDWEST PRESSE sprechen die stellvertretende Chefredakteurin Judith Conrady und Nachrichtenchef Roland Müller mit der 62-Jährigen über die Verschärfung des Sexualstrafrechts, kriminelle Genies und Rückerts Lieblingsverbrechen in der Bibel.
Frau Rückert, können Sie Ihren Mitmenschen noch trauen, oder vermuten Sie in jedem Glas Wasser Gift?
Keineswegs, ich vertraue den Mitmenschen durchaus. Menschen sind natürlich zu vielem fähig, aber wenn die Umstände in Ordnung sind, sind auch die Leute in Ordnung. Sie zeigen ihre finsteren Seiten nur, wenn sie dazu gezwungen werden – und im Moment sieht es hier ja nicht danach aus.
Wir sitzen gerade zivilisiert zusammen und unterhalten uns. Sie sagen aber, dass jeder zu Gewalttaten in der Lage ist?
Natürlich, das weiß man doch. Man muss ja nur Nachrichten gucken. Da sieht man: Wenn das System kippt, kippt die innere Befindlichkeit der Leute. Die ganze Faszination, die vom Wilden Westen ausgeht, ist ja, welchen inneren Kompass jemand hat und was ist, wenn die Gesetzlosigkeit herrscht. Hält man sich dann noch an Gesetze oder nicht? In unserem Land wurden die Gesetze vor 90 Jahren auf den Kopf gestellt und auf einmal waren viele, die vorher und zwölf Jahre später brave Bürger waren, Mörder oder solche, die die nationalsozialistischen Verbrechen gut gefunden haben.
Es gibt Menschen, die in solchen Situationen ohne Rücksicht auf das eigene Befinden anderen helfen.
Die gibt's auch. Und es gibt die, die Waffen haben – das sind die, die gewinnen.
Sie haben ja viele Mörderinnen und Mörder kennengelernt.
Ja, ein paar. Nicht allzu viele. Ich habe sie in Gerichtssälen gesehen und mit einigen habe ich auch lange Interviews geführt.
Muss man sich das vorstellen wie im Film „Das Schweigen der Lämmer“, oder sind das manchmal ganz sympathische Leute?
Das ist ja im „Schweigen der Lämmer“ auch das Interessante, dass der Täter durchaus ein sympathischer Mann ist. Der ist natürlich verrückt und auf eine geniale Weise bösartig, aber letztlich hilft er der Frau auch noch, er ist eine ambivalente Figur. Anders ist das, wenn jemand in der wirklichen Welt ein Serienmörder ist. Dann merkt man schon, dass mit dem etwas nicht stimmt, dass da etwas Krankes in der Person ist, wenn man mit ihr spricht. Es wird auch klar, warum das Kranke ausgelöst wurde oder entstanden ist.
Im Fernsehen und in Filmen wird uns oft das kriminelle Genie präsentiert: Leute, die einen ausgefeilten Plan haben und sehr schlau sind. Inwieweit entspricht das der Realität?
Die meisten Verbrecher sind dumm, deswegen erwischt man sie ja. Die genialen erwischt man nicht und deswegen bleiben sie unerkannt. Wir haben eine Strafjustiz, die weiß, dass sehr viele Straftaten nicht erkannt werden und dass an denen, die man erwischt, ein Exempel statuiert wird. Deswegen gibt es eine öffentliche Hauptverhandlung, damit man sieht: So geht's nicht.
Sie wurden in einem Interview mal gefragt, was der schlimmste Fall ist, über den Sie berichtet haben. Es ist ein Fall aus Süddeutschland, aus der Stadt Weißenhorn, wo 2004 eine Dreijährige von ihrer Mutter und deren Partner zu Tode misshandelt wurde. Warum hat Sie dieser Fall so stark berührt?
Das ist ein Fall, der damals alle erschüttert hat. Man hat eine Tasche im Krankenhaus gefunden, in der Damentoilette, in der ein sterbendes Kind lag. Es sah so schrecklich aus, dass die Krankenschwestern, die das Kind gefunden haben, hinterher psychologisch betreut werden mussten. Dann wurden die Täter gesucht und nach einer Weile hat man sie gefunden. Das war die einzige Hauptverhandlung, wo mir vorher nicht klar war, ob ich da wirklich reingehen würde, weil es so schrecklich war. Es war unvorstellbar, das reine Böse.
Sie haben nicht nur einen erfolgreichen Crime-Podcast, sondern noch einen zweiten mit Ihrer Schwester: „Unter Pfarrerstöchtern“. Auch der lebt davon, dass man Ihnen beiden sehr gerne zuhört. Können Pfarrerstöchter besonders gut reden?
Das weiß ich nicht, ich kenne nicht so viele Pfarrerstöchter. Es gibt auch ein paar Pfarrerstöchter, die kenne ich und denen höre ich nicht so gerne zu. Ich glaube, dieser Podcast lebt davon, dass meine Schwester und ich uns sehr gernhaben und sehr lange kennen – und über solche Themen auch privat Gespräche führen. Wir unterhalten uns auch so gerne mal über die Bibel, vor allem über die Geschichten in der Bibel, die sind ja super.
Bei dem, was man so über Gott liest in der Bibel, kommt er ja nicht so gut rüber.
Naja, wenn Gott Leute, die die Stimme gegen ihn erheben, in einem Spalt verschwinden lässt, der sich in der Erde auftut, was ist daran sympathisch? Oder wenn er erstmal die Menschen macht, dann findet er sie alle scheiße, lässt den großen Regen kommen und sie ersaufen alle – das kann man sich wunderbar auf grauenhaften Bildern ansehen, wo sich arme Kerle noch an irgendwelche Felsen klammern.
Wie ist denn Ihr persönliches Verhältnis zu Gott?
Oh, das ist ja eine Frage, die kommt aus dem Off. Ich bin natürlich mit Gott aufgewachsen, ich bin aus einer Pfarrersfamilie, habe jede Menge Theologen in der Familie. Also: Wenn es ihn gibt, glaube ich nicht, dass er in der Bibel steht. Das hoffe ich für uns alle, aber ich will nicht ausschließen, dass es eine große Intelligenz gibt, die sich in der gesamten Welt manifestiert.
Zur Person: Wer ist Sabine Rückert?
Sabine Rückert (62) ist Journalistin, Autorin, Podcasterin – und stellvertretende Chefredakteurin der „Zeit“. Nach ihrem Studium besuchte sie die Springer-Journalistenschule und arbeitete für die „Bild“-Zeitung. Danach war Rückert Redakteurin bei der „taz“, 1992 wechselte sie zur „Zeit“. Einem jüngeren Publikum bekannt wurde Rückert im Jahr 2018, als sie gemeinsam mit Redakteur Andreas Sentker die ersten Folgen des Podcasts „Zeit Verbrechen“ veröffentlichte. Im Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ spricht Rückert außerdem mit ihrer Schwester, der Theologieprofessorin Johanna Haberer, über die Bibel.
Haben Sie ein Lieblingsverbrechen in der Bibel?
Mein Lieblingsverbrechen ist das von König David. Er missbraucht seine Position als König von Israel. David will Batseba, die Frau seines Hauptmanns Urija, für sich haben. Er geht mit ihr ins Bett und sie wird schwanger – und dann kommt David in eine blöde Situation. Er hat zwar schon 400 Frauen, aber jetzt hat er eine geschwängert, die nicht ihm gehört und er weiß nicht, was er machen soll. Dann gibt er ihrem Mann einen Brief mit an seinen Vorgesetzten, da steht drin: Lieber Vorgesetzter, schickt den Urija in die allererste Reihe, er soll umkommen. So kommt Urija um und König David nimmt Batseba in seinen Harem auf. Ein astreiner Mord, der dann allerdings von Gott geahndet wird.
2016 gab es die Änderung im Sexualstrafrecht, die bekannt ist unter „Nein heißt Nein“: In dem Moment, in dem eine Person klarmacht, sie will nicht, handelt es sich um einen Übergriff – auch wenn keine Gewalt angewandt wurde. Sie haben das vorab als „unnötig“ und „verhängnisvoll“ kommentiert. Sehen Sie das heute immer noch so?
Ich habe das damals so kommentiert, weil ich den Eindruck hatte, dass dem Strafrecht immer mehr aufgelastet wird. Das Strafrecht soll für alles und jeden aufkommen und die Situationen, die zu beurteilen sind, werden immer verschwommener. Es gibt ja schon die Nötigung, es gibt die Vergewaltigung. Wenn jemand eine Frau bedrängt und in irgendeiner Weise sexuell angegriffen hat, war das auch schon vor der Gesetzesänderung strafbar. In der Debatte ging es dann darum: Hat sie Ja gesagt, hat sie Nein gesagt? Und da habe ich mich gefragt: Wie soll ein Richter das jemals entscheiden? Heute habe ich ein bisschen den Eindruck, dass diese ganze Frage „Nein heißt Nein“ bereits in der Vergangenheit liegt.
Inwiefern?
Inzwischen sind wir in einer Situation, wo die Frauen Ja sagen und trotzdem ist es Unrecht. Wir haben ja den Fall beim Springer-Verlag gehabt. Da hat niemand Nein gesagt und trotzdem ist es eine Täuschung der Frauen und ein Missbrauch der Macht – was nicht strafrechtlich geahndet wird, die Konsequenzen erfolgen über Compliance-Regeln.
In Interviews haben Sie darüber gesprochen, dass Sie als junge Frau oft unsicher waren. Offenbar hat sich das verändert, Sie wirken sehr selbstsicher – wie kommt man da hin?
Indem man sich etwas zutraut oder sich in Situationen begibt, denen man nicht gewachsen ist. Anders geht es nicht. Früher hat man gesagt: Ein Mann geht dahin, wo er Angst hat. Das gilt für Frauen auch: Als Frau muss man dahin gehen, wo man Angst hat und dann muss man diese Angst loswerden. Als junge Erwachsene hatte ich sehr viel Angst und sie ist nur verschwunden, weil ich sie nicht habe gewinnen lassen. Das war ein innerer Streit zwischen der Angst und dem Ehrgeiz. Der Ehrgeiz hat gewonnen, das war mein Glück, aber es gab gerade in dieser Zeit viele Dinge, die ich aus Angst unterlassen habe. Das tut mir heute noch Leid.
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Das Interview mit Sabine Rückert ist inzwischen auch als Sonderfolge im Podcast „Akte Südwest“ erschienen. Hier kann man es anhören: