Eins stellt Melissa Schultze gleich am Anfang des Gesprächs klar: „Niemals in meinem Leben bin ich Impfgegnerin gewesen. Ich bin es auch heute nicht.“
Die 35-jährige Erziehungswissenschaftlerin leitet die Ganztagsbetreuung an einer Tübinger Grundschule; berufsbedingt gehörte sie zu den Ersten, die in Baden-Württemberg gegen Corona geimpft wurden. Nach dem ersten Piks stellten weder sie noch ihre Ärzte einen Zusammenhang mit den heftigen Beschwerden her, die sich einstellten – unter anderem Gliederschmerzen, Herzrasen, Sehstörungen, unkontrollierbares Zittern. Fahrradfahren, Gehen, Duschen im Stehen wurden zeitweise unmöglich.
Die zweite Impfung verstrich ohne Veränderung, doch nach der dritten nahmen die Symptome „explosionsartig“ zu, wie Schultze berichtet. Sie hat mehrere Aufenthalte in der Notaufnahme hinter sich und eine lange Liste ernsthafter Verdachtsdiagnosen, vom Schlaganfall bis zu Multipler Sklerose. Eine nach der anderen wurden wieder ausgeschlossen; die Ursache musste etwas anderes sein.

Seit neun Monaten dauerhaft krankgeschrieben

Seit neun Monaten ist Schultze dauerhaft krankgeschrieben. Dass ihre Probleme zu den Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe gehören können, hat sie nicht in Krankenhäusern erfahren, sondern beim verzweifelten Googlen. In dessen Verlauf stieß sie auf die nach eigenen Angaben erste deutsche Selbsthilfegruppe, unmittelbar in ihrer Heimatstadt.
Im Februar 2022 unter dem Dach des Sozialforums Tübingen entstanden, gehören der Post-Vakzin-Gruppe heute knapp 50 Menschen aus der Umgebung an. Unsere Redaktion hat anonymisierte Erfahrungsberichte eingesehen, mit sechs Mitgliedern persönlich gesprochen und von diesen auch Unterlagen ausgewertet. Die Betroffenen fühlen sich von Medizin und Politik weitgehend im Stich gelassen; nicht alle wollten mit vollem Namen genannt werden.

„Der Chefarzt hat mir gar nicht zugehört“

„Der Chefarzt hat mir gar nicht zugehört“, berichtet die 57-jährige Kinderkrankenschwester Simone H. „Auch auf meine Frage, warum meine Entzündungswerte und meine Schilddrüsenwerte so hoch gestiegen sind, bekam ich keine Antwort.“ Wie vielen ihrer Leidensgenossen wurde ihr eine Psychotherapie empfohlen.
„Bei Anhalten der Beschwerden sollte Pat. kreiszugehörige Psychiatrische Institutsambulanz aufsuchen“, erhielt der 44-jährige technische Fachwirt Nicolai J. mit auf den Weg. „Nach den ersten drei Symptomen hieß es, das sei ja so was von undifferenziert und so viel, das musste ja eine psychosomatische Störung sein“, erzählt die 31-jährige Sozialpädagogin Anaïs Borrego. „Ich bin sicherlich ein halbes Jahr lang angeguckt worden, als hätte ich einen an der Waffel“, berichtet auch Schultze.

Nur für Corona-Patienten, nicht für Post-Vac-Betroffene

Die Long-Covid-Ambulanz der Universitätsklinik Marburg war die bundesweit erste, die eine Post-Vac-Sprechstunde einführte – weil die Symptome sich sehr ähneln, wie Chef-Kardiologe Bernhard Schieffer erklärt hat. Notwendig seien interdisziplinäre Anlaufstellen, zu denen auch Post-Vac-Patienten Zugang hätten. Inzwischen gibt es an der Berliner Charité eine zweite solche Sprechstunde. Die Wartelisten sind hier wie dort lang. Denn an anderen Post-Covid-Ambulanzen werden Menschen, die wie Melissa Schultze bislang kein Covid hatten, oft abgewiesen – auch wenn die zuständigen Ministerien in Baden-Württemberg einen anderen Eindruck verbreiten.
„Die Gesundheitsversorgung ist bei uns natürlich genauso ausdifferenziert und hochwertig wie in Hessen“, teilt beispielsweise das baden-württembergische Sozialministerium mit. Erste Anlaufstelle sei immer die Hausarztpraxis. Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe berichten entweder von Hausärzten, die nicht an Impfschäden glauben wollten, oder von hilfsbereiten, aber fachlich überforderten Allgemeinmedizinern.

Unikliniken: Vorstellung nur nach Infektion

Das Wissenschaftsministerium des Landes erklärt: „Die Post-Covid-19-Ambulanzen in BW und generell alle Standorte/Universitätskliniken unserer Long-Covid-Langzeitstudie EPILOC nehmen auch Post-Vac-Patientinnen und Patienten auf.“
An den vier großen Universitätskliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm klingt das anders. „Nein, eine solche Vorstellung ist nicht vorgesehen“, erklärte Heidelberg auf die Frage, ob sich in der dortigen Post-Covid-Ambulanz auch Impfgeschädigte ohne Infektion einfinden könnten. In der Tübinger Spezialambulanz werden Patienten „nach Infektion“ untersucht, so wird das auch in Freiburg gehandhabt. Lediglich Ulm erklärte, „fallweise“ Post-Vac-Patienten aufzunehmen. Auch von dort präsentierte uns die Selbsthilfegruppe schriftliche Absagen. Bei EPILOC handelt es sich um eine Studie, für die ausschließlich Menschen angeschrieben wurden, die den Gesundheitsämtern mit einer Covid-Erkrankung bekannt waren.

Zehn Monate Warten auf einen Termin in Marburg

So bleibt Betroffenen oft nur die Fachabteilung für gerade akute Beschwerden, die dann auch nur symptombezogen behandelt werden. Melissa Schultze hatte nach zehn Monaten Wartezeit vor zwei Wochen einen Termin in Marburg. „Zum ersten Mal seit nun 1,5 Jahren hab‘ ich vor einer Ärztin geweint, weil ich mich das erste Mal nicht erklären oder rechtfertigen musste“, berichtet sie. „Ob ich wieder werde wie vorher, konnte sie mir nicht garantieren, vermutlich wird es ein neues Normal für mich geben.“ Immerhin habe sie nun etwas in der Hand, „das offiziell erklärt, was los ist, und dass ich zweifelsohne nicht bekloppt bin.“
„Jeder einzelne Impfschaden ist einer zu viel“, erklärt das Sozialministerium. „Der Staat kommt hier mit der Versorgungsleistung seiner Verantwortung nach.“ Aber tut er das wirklich?

Nur wenige Impfschäden anerkannt

Für die Anerkennung von Schädigungsfolgen sind in Baden-Württemberg die Versorgungsämter der Kreise zuständig. Dem Sozialministerium zufolge sind dort seit Beginn der Corona-Impfungen insgesamt 581 Anträge eingegangen (Stand: 31.12.2022). Bislang seien 24 davon bewilligt worden, teilte die Pressestelle im Februar mit. 90 Anträge wurden demnach abgelehnt und 32 Anträge aus sonstigen Gründen erledigt.
Dem Ministerium zufolge hat es seit Dezember 2020 in Baden-Württemberg 24,7 Millionen Corona-Impfungen gegeben. Der Anteil der anerkannten Impfschäden sei „mit unter 0,0001 Prozent äußerst gering“, erklärte die Pressestelle. „Selbst wenn alle noch offenen Anträge zu einer Bewilligung führen würden (was sicher nicht der Fall sein wird), läge die Impfschadensquote noch immer unter 0,002 Prozent.“
Allerdings dürfte es sich bei denjenigen, die bislang einen solchen Antrag gestellt haben, um die Spitze des Eisbergs handeln. Zudem muss für die Anerkennung eines Versorgungsantrags ein Zusammenhang mit der Impfung belegt werden. Das ist bei einem medizinisch kaum erforschten Phänomen schwierig. Die 28-jährige Managerin Tamara Retzlaff, seit eineinhalb Jahren berufsunfähig, hat am Donnerstag die Ablehnung ihres Antrags erhalten – obwohl ihr die Marburger Post-Vac-Klinik und die Deutsche Rentenkasse Impfschäden bescheinigt haben, obwohl das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) ihren Chronic-Fatigue-Fall in seinen Sicherheitsbericht aufgenommen hat. Die Bundesbehörde ist für die offizielle Beobachtung möglicher Impfkomplikationen zuständig.
Dem PEI und der Europäischen Zulassungsbehörde zufolge kommen schwere Schäden bei 0,01 Prozent der Covid-Impfungen vor. Ein Gutachten zu Retzlaffs Ablehnungsbescheid erklärt dagegen: „Derzeit kann angesichts der Spontanberichte auch im internationalen Kontext kein Signal für anhaltende Beschwerden nach COVID-19 Impfung detektiert werden.“ Verfasser ist der ehemalige Leiter eines baden-württembergischen Impfzentrums. „Unter diesen Voraussetzungen wird kaum jemand den Antrag anerkannt bekommen“, schlussfolgert Retzlaff.

Eine erste Therapie entwickelt

Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach am 12. März von 0,01 Prozent schweren Impfschädigungen. Der Marburger Post-Vac-Spezialist Bernard Schieffer rechnete in einem Vortrag Ende Februar mit 0,02 Prozent – nicht mehr als bei anderen Impfungen, aber auch nicht nichts. Der Kardiologe beobachtet keinen Unterschied zwischen mRNA- und Protein-Impfstoffen.
„Um das von vornherein klarzumachen: Ich bin ein absoluter Befürworter der Impfung“, sagte Schieffer. Das Risiko einer Long-Covid-Erkrankung nach einer Infektion betrage nämlich zehn bis 15 Prozent.
Anhand teils noch unveröffentlichter Studien legte Schieffer dar, dass der Körper mancher Patienten auf die Impfung reagiere wie auf eine Infektion: mit einem „Entzündungsfeuerwerk“. Bei Post Vac könne es wie bei Post Covid zur Schädigung der Gefäßwände, zum Zusammenbruch des Abwehrsystems, aber auch zu Störungen im Gehirn kommen, vom berüchtigten „Brain Fog“ bis zu Depressionen.
In seinem Vortrag berichtete Schieffer von einer zusammen mit Kollegen entwickelten ersten Therapie, die auf Fett-Senkern und einer Blockade des körpereigenen Hormonsystems RAS basiere und ermutigende Erfolge zeitige. Auch Melissa Schultze hat sich gemeinsam mit ihrer Hausärztin nun auf einen solchen Weg begeben.
Uns vorliegende Korrespondenz legt nahe, dass nicht alle Mediziner im Land Schieffers Ansichten teilen. So oder so fehlen interdisziplinäre Ambulanzen, findet die Selbsthilfegruppe. „Schafft lokale Anlaufstellen“, fordert Schultze, „und nehmt die Leute verdammt noch mal ernst.“

HIlfe in der Gruppe

Kontakt zur Post-Vakzin-Gruppe Tübingen ist über das Sozialhilfeform Tübingen möglich, dort unter „Selbsthilfe“ und „Erkrankung“). Inzwischen gibt es ähnliche Gruppen auch anderswo im Land, es gibt auch eine deutschlandweite Dachorganisation. Unter folgenden Links finden sich weitere Selbsthilfe-Überblicke, einmal für Baden-Württemberg oder auch bundesweit.