27 Jahre nach einer Bluttat an einer Frau in Sindelfingen (Kreis Böblingen) hat ein Mordprozess gegen den mutmaßlichen Täter neu begonnen: Von diesem Mittwoch an muss sich ein mittlerweile 72-jähriger Ex-Topmanager ein weiteres Mal wegen desselben Falls vor Gericht verantworten. Der Rentner war im Juli 2021 bereits vom Landgericht Stuttgart zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er hatte 1995 die 35-jährige Brigitta J. an einem S-Bahnhof angegriffen und erstochen, das steht aus Sicht der Justiz auch weiterhin fest. Der Mann konnte mit seiner Revision aber den Bundesgerichtshof überzeugen, der das Urteil aufhob und den Fall an eine andere Kammer des Landesgerichts zurückverwies.
Schwester des Opfers nennt neuen Prozess „unverständlich“
Die Schwester des Opfers, Nicola Moser, tritt auch im zweiten Prozess als Nebenklägerin auf. „Das wühlt alles wieder auf, man kommt nicht zur Ruhe“, sagte sie vor Verhandlungsbeginn zu Journalisten. Die Neuauflage des Prozesses bezeichnete sie als „unverständlich“. Wenn es wieder auf ein Mordurteil hinauslaufe, könne sie damit abschließen. Ein Urteil wegen Totschlags wäre dagegen eine „Zumutung“. „Meine Schwester kann sich nicht mehr wehren, sie ist tot und bleibt tot.“
Verlässt der Täter das Gericht als freier Mann?
Juristisch ist der Fall komplex – und möglicherweise folgenreich. In dem ersten, reinen Indizienprozess mit einem konsequent schweigenden Angeklagten sei das Mordmerkmal der Heimtücke nicht ausreichend belegt worden, hieß in der Begründung der Revision es aus Karlsruhe. Unklar bleibt also auch weit mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Tat, was passierte, bevor das damals 35 Jahre alte Opfer starb. Zwar stehe die Schuld des nun erneut angeklagten Mannes zweifelsfrei fest, entschied der BGH. Aber aus Sicht der Karlsruher Richter lässt sich nicht aufklären, was vor den tödlichen Stichen passiert ist. Hat es ein Gespräch gegeben oder einen Streit, hätte die Frau fliehen oder um Hilfe rufen können? Denn dann wäre es nicht unbedingt ein Mord gewesen, der nach deutschem Recht nicht verjährt, sondern vielleicht ein Totschlag. Und für einen solchen kann man nach mehr als 20 Jahren nicht mehr bestraft werden, der 72-Jährige würde den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.
Riesiger Aufwand für den Prozess
Eine andere Strafkammer des Landgerichts soll von diesem Mittwoch an die Möglichkeit bekommen, den Fall noch einmal von Grund auf zu untersuchen. Das dürfte aufwendig werden. Denn im ersten Prozess gab es Dutzende Zeugen, viele Aussagen von Menschen, die mittlerweile im Ausland leben, die Aktenlage war katastrophal, es fehlten Asservate und angefragte Zeugen waren teilweise schon verstorben oder hatten mit Erinnerungslücken zu kämpfen. Und der Angeklagte? Er schweigt, sein Motiv bleibt unklar. „Was Sie angetrieben hat, darüber liegen wir völlig im Dunkeln“, sagte der Richter in der Begründung zum ersten Urteil. Der psychiatrische Gutachter hält allerdings sogar „pure Mordlust“ als Motiv für möglich. Auch zu Beginn des zweiten Prozesses am Mittwoch kündigte die Anwältin von Hartmut M. an, ihr Mandant werde weder Angaben zur Person noch zur Sache machen.
Bereits 2007 eine Anhalterin getötet
Der Mann war erst überführt worden, nachdem ihm DNA-Spuren unter den Fingernägeln des Opfers zugeordnet werden konnten. Er hatte die 35-jährige Frau auf ihrem Heimweg von der Arbeit angegriffen und getötet. Eine nach der Tat gegründete Sonderkommission hatte den Mann bereits früh im Visier - doch die Ermittlungen blieben zunächst erfolglos. Erst 2018 erhärtete der DNA-Treffer den Verdacht gegen den in Norddeutschland geborenen Mann.
Ein unbeschriebenes Blatt war er bei Polizei und Justiz da schon lange nicht mehr: 2007 hatte ihn das Landgericht Würzburg bereits wegen Totschlags an einer Anhalterin aus Obersontheim (Kreis Schwäbisch Hall) verurteilt – auch damals erst im zweiten Anlauf nach einem Freispruch im ersten Prozess.
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