Immer wieder geht es um dieses eine Foto: Die tote Seniorin Lieselotte Kortüm liegt kopfüber in der vollgefüllten, blau gekachelten Badewanne. Sie ist bekleidet, Kopf und rechte Körperhälfte sind unter Wasser, das linke Bein liegt über der Badewannenbrüstung. Am 28. Oktober 2008 wurde die 87-Jährige so von einer Mitarbeiterin des Pflegedienstes aufgefunden, in ihrer Wohnung im oberbayerischen Rottach-Egern am Tegernsee.
Ist Lieselotte Kortüm in der Badewanne gestürzt oder wurde sie getötet? Der promovierte Physiker Syn Schmitt hat umfangreiche Simulationen durchgeführt.
Ist Lieselotte Kortüm in der Badewanne gestürzt oder wurde sie getötet? Der promovierte Physiker Syn Schmitt hat umfangreiche Simulationen durchgeführt.
© Foto: Uni Stuttgart/Max Kovalenko
Mehr als 14 Jahre ist das jetzt her, doch weiterhin ist nicht geklärt, wie die Witwe ums Leben gekommen ist. Das Foto wird in verschiedenen Variationen und Computersimulationen immer wieder an die Leinwand im großen Schwurgerichtssaal A-101 des Münchner Landgerichts projektiert.

Manfred Genditzki hat immer bestritten, der Täter zu sein

Kann man alleine so in eine Badewanne stürzen, kann man sich dabei Kopfverletzungen wie Lieselotte Kortüm zuziehen? Oder muss die verwitwete Frau reingestoßen und ertränkt worden sein? Und wann ist der Tod eingetreten? Diese Fragen lassen Manfred Genditzki und andere seither nicht los.
Genditzki, der damalige Hausmeister der Anlage, in der Lieselotte Kortüm wohnte, wurde in zwei Prozessen wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Er hat die Tat immer vehement bestritten. Und seine Münchner Anwältin Regina Rick hat seither nicht locker gelassen, denn sie ist der festen Überzeugung, dass ein Unschuldiger im Gefängnis saß. „Herr Genditzki hat Frau Kortüm nicht umgebracht“, sagt sie.
Nun sitzt er seit Ende April erneut auf der Anklagebank, der Prozess zum „Badewannen-Mord“ wurde in München wieder aufgenommen, was eine absolute Seltenheit ist. Doch jetzt ist der heute 62-Jährige zumindest vorläufig als freier Mann in dem Verhandlungssaal. Im August 2022 war er aus dem Gefängnis in Landsberg am Lech entlassen worden – es bestehe kein „dringender Tatverdacht“ mehr, stellte das Gericht fest.

Stuttgarter Forscher Niels Hansen und Syn Schmitt waren entscheidend

Niels Hansen, Professor für Technische Thermodynamik an der Universität Stuttgart, zeigt im Gerichtssaal eine Menge Bilder, Grafiken und mathematische Kurven. Zwei Badewannen sind zu sehen – A und B –, in denen er Experimente und Messungen durchgeführt hat. Unter anderem ihm und seinem Kollegen Syn Schmitt, der als Professor ebenfalls in Stuttgart forscht, ist es zu verdanken, dass dieses Verfahren überhaupt wieder aufgenommen wurde.
Hat die Abkühlung der Temperatur des Badewassers berechnet: Niels Hansen, Professor für Technische Thermodynamik an der Universität Stuttgart.
Hat die Abkühlung der Temperatur des Badewassers berechnet: Niels Hansen, Professor für Technische Thermodynamik an der Universität Stuttgart.
© Foto: Uni Stuttgart/Max Kovalenko
Es geht Hansen um die Eingrenzung des Todeszeitpunkts von Lieselotte Kortüm. Und das anhand der damals am späteren Abend bestimmten Wassertemperatur in der Badewanne. Das lässt sich herausfinden, meint Hansen. Sehr vereinfacht gesagt: Er hat mit seinen Wannen, Wasser und Thermostat experimentiert, hat gemessen und mit Formeln gerechnet.

Hausmeister Genditzki war „immer nett und hilfsbereit“

Der Hausmeister Manfred Genditzki hatte dem 2007 verstorbenen Mann von Lieselotte Kortüm in die Hand versprochen, dass er sich um sie kümmert, wenn dieser nicht mehr lebt. So hatte er für die Seniorin eingekauft, Fahrten erledigt, trank mit ihr Kaffee. „Er war immer freundlich, nett und hilfsbereit gewesen“, erinnert sich eine Freundin aus seiner früheren Heimat in Mecklenburg-Vorpommern. „Er war glücklich und zufrieden mit seinem Leben.“ Ein einstiger Arbeitgeber bezeichnet ihn als „verlässlich und liebenswürdig“. Alle Beschreibungen von Genditzkis Wesen ähneln sich.
Am 28. Oktober 2008 holte er Lieselotte Kortüm nach einem Krankenhausaufenthalt ab und brachte sie in die Wohnung. Vor halb vier am Nachmittag muss er sie verlassen haben, denn ein Einkaufsbon aus einem wenige Kilometer entfernten Supermarkt belegt, dass er dort um genau 15.30 Uhr Süßigkeiten und Pflegeutensilien für seine eigene Mutter gekauft hatte. Diese hatte er im Anschluss mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn besucht.

Die Rolle von Todeszeitpunkt und Wassertemperatur

Wann Frau Kortüm gestorben ist, konnte der Gerichtsmediziner aus dem ersten Prozess kaum präzisieren. „Der Todeszeitpunkt ist nicht näher eingrenzbar“, heißt es in dem Urteil „im Namen des Volkes“ vom 12. Mai 2010 lapidar. Der Gutachter halte „einen Zeitraum zwischen 15 und 18 Uhr für denkbar“.
Auch unter dieser Annahmen hätte Genditzki sich als Mörder außerordentlich gesputet. Um 15 Uhr hätte er der Frau nach einem Streit – so nahmen es die Staatsanwaltschaft und die Schwurgerichtskammer ohne jede Belege an – auf den Kopf schlagen, sie in die Badewanne tragen und rein legen, das Wasser einfließen und sie ertränken müssen. Dann hätte er zum Supermarkt fahren, Süßigkeiten und Hygieneartikel aus den Regalen nehmen und diese Schlag 15.30 Uhr an der Kasse bezahlen müssen.
München: Manfred Genditzki steht vor Prozessbeginn im Wiederaufnahmeverfahren um den sogenannten Badewannen-Mordfall in einem Gerichtssaal vom Landgericht München I.
München: Manfred Genditzki steht vor Prozessbeginn im Wiederaufnahmeverfahren um den sogenannten Badewannen-Mordfall in einem Gerichtssaal vom Landgericht München I.
© Foto: Matthias Balk/dpa
Im Gerichtssaal wirkt Manfred Genditzki immer wieder wie ein gehetzter Mensch. Er ist schlank. Oft hat er die Lippen zusammengekniffen, schaut hin und her, der Blick ist ernst und angespannt. „Ich würd nicht sagen, es geht mir super, aber es geht mir besser“, sagt er in einem Interview, das seine Verteidigerin Regina Rick zur Verfügung gestellt hat. Während des Verfahrens äußert er sich auf Anraten der Anwältin nicht in den Medien. „Es gibt Tage, da läuft mir alles locker von der Hand“, erzählt er. „Und es gibt Tage, da fällt alles zusammen.“
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Der Professor Hansen sagt im Gericht: „Die Abkühlung einer komplett gefüllten Badewanne ist ein sehr träger Vorgang.“ Er verwendet Parameter wie die Temperatur des Leichnams, dessen Gewicht und die Temperatur des Wassers. Das Verfahren zur Bestimmung von Todeszeitpunkten hatte der 2021 verstorbene Professor und Rechtsmediziner Claus Henßge entwickelt.
2018 hatte Hansen mit Wanne A und B gemessen, kürzlich hat er angesichts des Prozess das Experiment nochmals mit einer Wanne C wiederholt. Sein beständiges Ergebnis: „Der Todeszeitpunkt lag mit hoher Wahrscheinlichkeit nach 15.30 Uhr.“ Demnach könnte Manfred Genditzki den ihm angelasteten Mord nicht begangen haben.

Keine Zeugen, keine Beweise, kein Geständnis

Warum der einstige Gerichtsgutachter damals solche Messmethoden nicht angestrebt hatte, bleibt unklar. Der Staatsanwalt und das Gericht wiederum hatten Probleme, ein Motiv für die angebliche Tat zu finden. Erst wurde Genditzki vorgeworfen, er habe Lieselotte Kortüm Geld gestohlen, um einem Bekannten 8000 Euro Schulden zurückzuzahlen. Die Rentnerin habe dies bemerkt, es sei zum Streit und dann zum Mord gekommen. Genditzki konnte allerdings nachweisen, dass er sich das Geld auf andere Weise beschafft und seine Ausstände beglichen hatte.
Also wurde eine neue Annahme aufgestellt: Bei der Rentnerin sei es zu einer „eifersüchtigen Reaktion“ – so steht es im Urteil – gekommen, als Genditzki gehen wollte, um seine eigene Mutter zu besuchen. Entgegen „seinem sonst gezeigten Langmut“ sei er in Rage geraten und habe Frau Kortüm mit einem Gegenstand zwei Mal auf den Hinterkopf geschlagen, sodass sie fiel. Genditzki fürchtete, von ihr angezeigt zu werden und seine Arbeit zu verlieren. Also ertränkte er sie in der Badewanne und täuschte einen Sturz vor.
Zeugen, Beweise, ein Geständnis dafür? Fehlanzeige.
Derselbe Gerichtsmediziner, der sich nicht sonderlich um den Todeszeitpunkt gekümmert hatte, stellte in der Obduktion Ertrinken als Todesursache fest. Weiter notierte er, so schreibt es eine Genditzki-Unterstützergruppe auf ihrer Homepage: „Keine zwingenden Anhaltspunkte für die Mitwirkung fremder Hand in Bezug auf das Hineinkommen ins Wasser.“
Der Gruppe zufolge lud die Polizei den Mediziner knapp drei Wochen nach dem Geschehen zu einer „Tatortbesichtigung“ ein. Plötzlich änderte dieser seine Meinung: Mit einem Sturz in die Wanne seien die Hämatome am Kopf und die Liegeposition der Leiche nicht zu erklären. Demnach war ein Mord plausibel.
Mit dem Modell einer Badewanne und einem verrenkten menschlichen Skelett auf einem übergroßen Bildschirm hat sich der Professor Syn Schmitt häufig befasst. Schon vor zwölf Jahren waren die Anwälte von Manfred Genditzki auf den damals 36-jährigen jungen Wissenschaftler zugekommen. Sie wollten wissen, ob er als Physiker mit der in Stuttgart neu entwickelten „biomechanischen Simulationsmethode“ herausbekommen kann, wie Lieselotte Kortüm in die Badewanne gelangt ist – hineingehoben oder doch von allein gestürzt?

Sturz ohne Fremdeinwirkung wahrscheinlich

Zum Inhalt seines Gutachtens äußert sich Schmitt jetzt nicht, er soll es Mitte Juni dem Gericht präsentieren. In einem Bericht des Alumni-Netzwerkes der Universität Stuttgart heißt es aber über seine Forschung: „Alle Simulationen führen zum gleichen Ergebnis: Sie zeigen, dass ein Sturz ohne Fremdeinwirkung wahrscheinlich ist. Die Simulation unterstützt damit eindeutig die Auffassung, dass es sich bei dem Fall um einen Unfall gehandelt haben kann.“ Lieselotte Kortüm, so sagte eine Bekannte aus, hatte die Angewohnheit gehabt, benutzte Wäsche erst in der Badewanne einzuweichen.
Im Gespräch mit dieser Zeitung sagt Syn Schmitt: „Der Fall ist eine Herausforderung für meine wissenschaftliche Methode bei der Erforschung von Biophysik von Bewegungen.“ Für ihn und seine Mitarbeiter sei es sehr gewichtig gewesen, damit Forschung zu betreiben.
Die beiden Stuttgarter Professoren erscheinen wie erkenntnishungrige Experimentierer. „Wir beschäftigen uns jeden Tag mit Tütelei“, meint Syn Schmitt. „Der Kollege Hansen hat sich da reingefuchst, ich mich auch, das ist unser täglich Brot.“ Naturwissenschaftler sagen gern: Man muss nicht etwas glauben, man kann es berechnen.

Manfred Genditzki wünscht sich „einfach Normalität“

Während der Untersuchungshaft 2009 wurde Manfred Genditzkis Tochter geboren. Zwei Enkel von älteren Kindern aus seiner ersten Ehe sind in seiner Gefängniszeit auf die Welt gekommen. Er hat sie jetzt alle das erste Mal in Freiheit gesehen. Im Gefängnis hat ihm seine Arbeit in der Wäscherei geholfen, hat ihm Struktur gegeben. Von einem Bekannten hat er jetzt eine Arbeit in einer Naturkäserei als Fahrer bekommen. Das sei „top“, sagt er. Und was wünscht er sich? „Normalität, einfach Normalität. Damit sich alles einrenkt.“
PS: Wahre Verbrechen stehen übrigens im Zentrum unserer Themenseite swp.de/crime. Hören Sie dort den Podcast „Akte Südwest“ und lesen Sie Hintergründe zu aktuellen und historischen Fällen in Baden-Württemberg – und vieles mehr.