Vitamine, Antibiotika, Schmerzmittel; Kondome, Zahnpasta, Tampons – die Klappfächer sind ordentlich beschriftet. „Arztmobil“ steht in Großbuchstaben außen auf dem weißen, zur rollenden Praxis umgebauten Kleintransporter. „Dies ist unser drittes Fahrzeug. Das erste, 1997, war außen blau“, erzählt Gerhard Trabert. „Wenn wir damit zu den Menschen gekommen sind, haben sie gesagt: ,Ihr seid wie ein Stück Himmel für uns’.“ So haben Trabert und sein Team die Decke ihres jetziges Wagens innen hellblau bemalt – mit wenigen Wolken.
Draußen hat es deutlich mehr davon. Der Himmel ist verhangen an diesem Januarnachmittag in Mainz. Erste Regentropfen fallen, als Trabert aus dem dritten Stock des Thaddäusheims der Caritas, in dem wohnungslose Männer übernachten können, hinunter spurtet in den Hof. Ebenso dynamisch hat er zuvor die Stufen hinauf genommen in sein kleines Sprechzimmer.
Dieser Mann hat enorme Energie. Der 64-Jährige ist Sozialarbeiter, Allgemein- und Notfallmediziner, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, Autor. Sein Buch „Der Straßen-Doc“ hat ihm einmal mehr deutschlandweit mediale Aufmerksamkeit gebracht. Trabert hat den Verein „Flüsterpost“ gegründet, der Kinder krebskranker Eltern unterstützt, und den Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“. Seit 30 Jahren ist er bei internationalen humanitären Einsätzen in Afrika und Asien aktiv, ebenso in der Seenotrettung. Trabert wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit der Paracelsus-Medaille – der höchsten Anerkennung der deutschen Ärzteschaft.
Warum tourt einer in seiner Freizeit mit einem Transporter zu den Ärmsten, die in Tiefgaragen oder Hauseingängen übernachten? „Es ist eine zutiefst befriedigende Arbeit“, sagt Trabert, dessen Gesicht sich eine jugendliche Offenheit bewahrt hat. „Das sind Begegnungen, die nicht smalltalkmäßig ablaufen nach dem Muster ,Mein Haus, mein Auto’. Diese Menschen definieren sich nicht über Materielles. Sie sagen, was sie meinen und meinen, was sie sagen.“
Johanna Kerber kommt. Die Werkstudentin im hellrosa Daunenmantel hat eine Tüte mit Medikamenten dabei, sortiert sie in die Klappfächer des Arztmobils. Sie wird Trabert, der hinter dem Steuer sitzt, heute begleiten. Erste Station: Sieben Container am Fort Hauptstein, einer davon nur für Frauen – den hat Trabert bei der Stadt durchgeboxt. Etwa ein Viertel der Obdachlosen sind Frauen, schätzt Trabert. Für sie ist das Leben auf der Straße noch schwieriger, zwei Drittel haben laut einer Münchner Studie als Kind Missbrauch erlebt, viele landen als Erwachsene in der Armutsprostitution.
237 000 Frauen und Männer hatten 2018 in Deutschland keine Wohnung – Flüchtlinge nicht mitgerechnet, so die Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. „In Deutschland fehlen 1,5 Millionen bezahlbare Kleinwohnungen“, sagt Trabert.
Die junge Sozialarbeiterin und der Arzt steigen aus, klopfen an die Container: „Das Arztmobil ist da.“ Eine Tür steht offen. Drinnen sitzen vier Männer auf Stockbetten, auf einer kleinen Herdplatte steht ein Topf. „Was gibt’s denn?“ fragt Trabert. „Suppe“, antwortet einer.
Ein Mann kommt zum Wagen. Er hustet. „Entschuldigung“, sagt er. „Sie müssen sich nicht entschuldigen“, entgegnet Trabert. „Ich würde Sie gerne abhören. Ziehen Sie bitte den Pulli hoch? Achtung, es wird etwas kalt.“ „’Tschuldigung“, sagt Z. nochmals und hustet. „Sie können sich wieder anziehen.“ „Entschuldigung.“ Z. bekommt ein Nasenspray und einen Schleimlöser. „Dankeschön.“
Ein Slowene taucht auf, mit glasigem Blick und mindestens zwei fehlenden Vorderzähnen im Oberkiefer. Ein Kumpel stützt ihn und übersetzt. L. habe Rückenschmerzen. Trabert gibt ihm Schmerzmittel und einen Magenschutz. Er solle mal wieder zum Baden ins Thaddäusheim kommen, rät er dem Patienten, und nicht so viel Alkohol trinken.
„EU-Bürger“, betont der Arzt, „sind legal bei uns, aber wenn sie keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben, sind sie nicht krankenversichert. Hier hat die EU versagt. Freizügigkeit ist okay, aber es wurde versäumt, ein soziales Netz aufzubauen.“
Die Behandlung der beiden Patienten aus dem Container wird nicht abgerechnet, aber Kerber trägt die Daten in Karteikarten ein. Trabert arbeitet unentgeltlich, Medikamente werden durch Spenden finanziert. Mit Krankenhäusern hat der Verein Armut in Deutschland ein Abkommen geschlossen: Er übernimmt maximal 3000 Euro pro Patient. „Mehr geht nicht“, sagt Trabert.
Verlust der Arbeit, Tod des Partners
Ein Mann in einer Daunenjacke kommt. „Ist mein Zeug noch bei Euch?“, fragt er. „Ich bin nicht vom Thaddäusheim. Aber ich kann die Schwester dort fragen“, erklärt ihm Trabert. „Schön, dass Sie nicht mehr auf der Straße schlafen.“ Er habe Magenprobleme, erzählt der Mann, er habe morgens erbrechen müssen. „Wie steht’s mit Alkohol?“ „Wenig“, sagt der Mann. „Was kann ich noch für Sie tun?“, fragt Trabert. „Ich brauche eine Wohnung“, kommt es sofort und bestimmt zurück. „Wenn die Container schließen, kommen Sie auf jeden Fall zu uns. Rechtzeitig. Dann schauen wir weiter“, sagt Trabert, der zwar weiß, dass der Mann 2014 nach einem Unfall eine Knie-Operation hatte, doch dessen Lebensgeschichte kennt er nicht. „Er öffnet sich aber langsam.“
Etliche seiner Patienten haben ihm ihr Schicksal erzählt. Etwa der 62-jährige Maurer, dessen Frau und Tochter von einem Auto überfahren wurden. Seit Jahren lebt er auf der Straße. Dort kann ihm niemand mehr etwas wegnehmen. Oder der Arbeiter, der sich die Schuld am Tod eines Kollegen beim Baumfällen gab. Er hat gekündigt und getrunken. Und landete auf der Straße. In seinem Buch hat Trabert diese Geschichten aufgeschrieben. „Das ist für mich eine Art der Verarbeitung. Ein Loslassen“, erklärt er.
Verlust der Arbeit, Tod des Partners, Scheidung, eine schwere Krankheit – der Weg auf die Straße beginnt oftmals mit Lebenskrisen. „Ich habe auch vier Kinder – wer weiß, wie ich reagieren würde, wenn ich einen solch gravierenden Schicksalsschlag erleiden würde und kein soziales Netzwerk hätte?“, gibt Trabert zu bedenken.
Seine Arbeit ist eine Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz. „Man muss eine professionelle Empathie finden, die aber authentisch ist“, betont Trabert. „Das versuche ich auch meinen Studenten zu vermitteln. Ich kann nicht mit jedem Patienten mitsterben, sonst bin ich nicht handlungsfähig. Ich habe aber gerade bei Ärztinnen und Ärzten häufig das Gefühl, dass sie aus Betroffenheit zu sehr auf Distanz gehen. Dann wirken sie abweisend – ein Selbstschutz.“