Es ist ein Leben voller verpasster Chancen. Vor zwei Jahrzehnten versuchte Petra Hinz, seit 1980 SPD-Mitglied und seit 1989 Stadträtin in Essen, auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachzuholen und so wenigstens diese Falschangabe in ihrer Biografie zu korrigieren – sie scheiterte. Als die selbsternannte Juristin vor elf Jahren in den Bundestag gewählt wurde, versäumte sie ein weiteres Mal, mit den Lügen in ihrer Vita aufzuräumen. Und selbst nachdem sie schon vor Wochen endgültig als Hochstaplerin im Hohen Haus entlarvt wurde, schafft es Petra Hinz einfach nicht, sich kleinlaut und reumütig zurückzuziehen, sondern macht weiter negative Schlagzeilen.
Bislang gab es immer noch Parteifreunde und Kollegen, die bereit waren, von einem „tragischen Fall“ zu sprechen. Da hatte sich eine Frau in jungen Jahren politisch engagiert, erst bei den Jusos, dann in der Kommunalpolitik, und wollte ihrer Karriere offenbar ein wenig auf die Sprünge helfen. Der Konkurrenzkampf um Posten und Mandate ist schon auf lokaler Ebene hart, und sogar in der ehemaligen Arbeiterpartei SPD zählen inzwischen Studienabschlüsse oder Doktortitel oft mehr als Kärrnerarbeit in der Partei oder eine Ausbildung zur Bürokauffrau. So ungefähr hat Petra Hinz damals wohl kalkuliert und sich auf eine riskante Tour begeben.
Die geschönte „Selbstoptimierung“ funktionierte ja lange Zeit auch prima. Niemand fragte ernsthaft nach, als über erste Ungereimtheiten wegen ihres behaupteten Jura-Examens und der angeblichen Tätigkeit bei einem Großkonzern getuschelt wurde, später zudem über den seltsamen Umgang der Abgeordneten mit ihren Mitarbeitern. Sowohl an der Essener Parteibasis wie auch in der SPD-Bundestagsfraktion sollen die Schummeleien und Gepflogenheiten der Genossin Hinz ein „offenes Geheimnis“ gewesen sein. Dennoch stellten sich die Verantwortlichen taub und blind – man scheute offenkundig einen Skandal, der nicht bloß die betroffene Parlamentarierin in Misskredit gebracht hätte.
Statt aber nach ihrem Auffliegen das Weite zu suchen und dadurch dem grellen Lichtkegel der Öffentlichkeit zu entkommen, zieht sich Petra Hinz nun fortlaufenden Ärger zu. Bis zur Stunde hat sie ihr Bundestagsmandat noch nicht niedergelegt. Das bedeutet zunächst, dass sie auch für den Monat August ihre Diäten (9327,21 Euro) und die steuerfreie Kostenpauschale (4305,46 Euro) kassiert. Zwar verbringt Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) noch bis Mitte des Monats seine Ferien am Bodensee. Doch heißt es aus seiner Umgebung, es habe mehrere Versuche gegeben, sich vorher und auch jetzt mit Frau Hinz zu treffen, die sich zwischenzeitlich krank gemeldet hat. An Lammert scheitere eine persönliche Begegnung von Anfang an nicht.
Zudem wird von Seiten der Parlamentsverwaltung darauf verwiesen, dass die Politikerin nach Paragraph 46 des Abgeordnetengesetzes ihren Mandatsverzicht nicht zwingend gegenüber Lammert selbst erklären muss, sondern zu diesem Zweck jederzeit auch bei einem Notar vorstellig werden kann. So hat es übrigens der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy bei seinem Rückzug im Schatten der Kinderporno-Affäre im Frühjahr 2014 gehalten. Sollten sich rücktrittswillige Volksvertreter im Ausland befinden, könnten sie ihre Entscheidung schließlich bei jeder deutschen Botschaft schriftlich bekunden.
Ihre Essener Partei hat Petra Hinz mit ihrer Verzögerungstaktik unterdessen schon auf die Barrikaden getrieben. Der Vorstand des zuständigen SPD-Unterbezirks setzte ihr am Montagabend ein Ultimatum von 48 Stunden, das Bundestagsmandat nun endlich niederzulegen. Außerdem rückt ein Parteiausschlussverfahren gegen die Frau mit dem frisierten Lebenslauf immer näher. Und bei der Essener Staatsanwaltschaft sind mehrere Anzeigen gegen die Genossin eingegangen, die seit Oktober 2005 im Bundestag sitzt – 2009 gewann sie den Wahlkreis direkt, 2013 kam sie über die NRW-Landesliste zu ihrem Mandat.
Welche Konsequenzen aber zieht das Parlament jetzt aus der Schwindelei? Natürlich wurden die falschen Angaben zur Person auf der Website des Bundestages sofort gelöscht. Doch ansonsten hält sich die Parlamentsverwaltung mit eigenen Aktivitäten betont zurück. Der Fall Hinz sei nicht zu vergleichen mit einem „Arbeitsverhältnis, bei dem man seinem Arbeitgeber Papiere vorlegen muss“, heißt es. Und aus der SPD-Fraktion verlautet: „Die biografischen Auskünfte der Bundestagsabgeordneten beruhen auf ihren eigenen Angaben. Entsprechend sind allein die Mitglieder des Bundestages für die Richtigkeit dieser Angaben verantwortlich.“
Kritisch wird es für Parlamentarier nur dann, wenn sie zu Beginn der Wahlperiode ein besonderes Anzeigenformular des Bundestages ausfüllen müssen – mit Angaben über Tätigkeiten vor Übernahme des Mandats, Tätigkeiten neben dem Mandat und Unternehmensbeteiligungen. Falsche oder unvollständige Angaben über solche „Nebeneinkünfte“ werden nur dann überprüft, wenn es „Zweifel an der Darstellung“ gibt. Übrigens blieb 1996 ungeahndet, als bekannt wurde, dass der CSU-Abgeordnete Hans Michelbach im Bundestagshandbuch wahrheitswidrig notieren ließ, er habe Abitur und sei Reserveoffizier – tatsächlich brachte es der Mittelstandspolitiker aus Coburg zur Mittleren Reife und zum Reserveoffiziersanwärter.
In der Parlamentsverwaltung weist man die Verantwortung für unrichtige Personalangaben von Volksvertretern strikt zurück: „Wir verwalten diese Daten nur“, sagt ein Bundestagssprecher, „deren Korrektheit liegt doch im eigenen Interesse der Abgeordneten.“ Grundgesetzartikel 38 garantiere das „freie Mandat“ und die „Immunität“ seiner Inhaber. Die Verwaltung achte darauf, nie den Eindruck zu erwecken, die freien Abgeordneten zu überwachen oder zu kontrollieren. Eine Initiative zur Veränderung der formalen Rechenschaftspflichten von Abgeordneten – etwa durch Vorlage von Dokumenten, Examens- oder Schulzeugnissen bei Eintritt in den Bundestag – müsste also von den Fraktionen ausgehen.
Doch da tut sich vorerst nichts – weder bei der schwarz-roten Koalition noch bei der Opposition. Die in diesem Fall betroffene SPD ließ lediglich verlauten, ob es bei diesem Verfahren „möglicherweise Änderungsbedarf gibt, wird gründlich zu diskutieren sein“. Das aber kann dauern. Die Parlamentarier kommen erst Anfang September aus der Sommerpause zurück nach Berlin. Vielleicht ist dann ja sogar Petra Hinz immer noch Mitglied des Hohen Hauses.
Psychologe: Lebenslauf beschönigen ist üblich
Kosmetik Erfundene Lebensläufe und falsche Angaben zum beruflichen Werdegang kommen nicht so selten vor, wie man vermutet. Nach Einschätzung des Personalpsychologen Rüdiger Hossiep ist das Mogeln beim beruflichen Werdegang heute der Regelfall. „Lebenslaufkosmetik ist Usus“, sagt der Psychologieprofessor an der Ruhr-Universität Bochum. Nach Schätzungen von Detekteien sei jede dritte Bewerbung gefälscht.
Bluffer Hossiep spricht sogar von einer „Bluff-Gesellschaft“, in der, geprägt vom Narzissmus des Einzelnen, vor allem der Titel zähle. „Ich glaube, man fängt mit kleinen Lügen an, das macht eigentlich jeder, und die Grenzen sind oft fließend.“ In Bewerbungsgesprächen gelte oft: „Zählt das Erreichte, oder reicht das Erzählte?“ Die meisten verließen sich auf die Aussagen des Gegenübers. „Wir sind gut beraten, Bewerbern viel kritischer auf den Zahn zu fühlen.“ dpa