Bei den derzeit vorherrschenden Temperaturen will niemand auch nur im Ansatz daran denken, was Jochen Böhringer in der vergangenen Woche geleistet hat. Wo schon der Gang zum Briefkasten zu mittleren Schweißausbrüchen führt, ist es nahezu unvorstellbar 1000 Kilometer mit den Fahrrad bei über 30 000 Höhenmetern  in nicht einmal ganz viereinhalb Tagen zu absolvieren. Der 40-jährige Tammer hat dies nicht nur geschafft, er war auch schnellster unter 73 Startern des Navad 1000 und distanzierte den zweitplatzierten Schweizer Hannes Meyle um fast drei Stunden.
Mit Temperaturen nahe an die 40 Grad, wie sie derzeit vorherrschen hatten die Teilnehmer des Navad 1000 nicht zu kämpfen. „Die Temperaturen waren zum Radfahren nahezu ideal – nicht zu warm und nicht zu kalt“, berichtet Böhringer. Dafür machten andere Widrigkeiten den Extrem-Radsportlern zu schaffen. „Am Start in Romanshorn war es sehr windig, und in der ersten Nacht zog ein heftiges Unwetter mit Starkregen auf“, so der Tammer. Er sah sich deshalb genötigt, anzuhalten, obwohl er es zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch nicht vorgehabt hatte. Theoretisch hätte er jedes Hilfsmittel annehmen dürfen, das auch den anderen Teilnehmern offen stand. Er hätte also in einem Hotel oder einer Pension übernachten dürfen – allerdings nur, wenn sie vor Ort bei Ankunft gebucht wurde. Böhringer hielt auch an einem Hotel an. „Dort war gerade eine Hochzeitsgesellschaft in vollem Gange“, berichtet er. Da wollte er nicht weiter stören, zumal ihm die Formalitäten eh zu zeitaufwändig waren. „Ich habe gefragt, ob sie einen Fahradkeller oder Ähnliches haben und habe dann in der Tiefgarage genächtigt.“

Eine Nacht in der Tiefgarage

Die ungewöhnliche Unterkunft nahm er allerdings nur so lange in Anspruch, bis das Wetter besser wurde. Im Schnitt kam er auf drei Stunden Schlaf pro Nacht. Dieser extreme Einsatz war für den Sieg auch bitter nötig. Denn bis zum Morgen des letzten Tages lagen die ärgsten Verfolger nur rund eine Stunde zurück. „Am Ende ist das dann auch eine mentale Frage. Wenn du merkst, du kommst nicht mehr ran und von hinten droht keine Gefahr, dann werden aus einer auch gleich drei oder vier Stunden Rückstand“, berichtet Böhriger über den Verlauf des Rennens.
Der Tammer musste ab der Nacht in der Tiefgarage vor allem gegen seinen inneren Schweinehund kämpfen. Denn während am ersten Tag durchaus noch in Gruppen gefahren wurde, lag Böhringer ab dem Morgen des zweiten Tages in Führung und war auf sich alleine gestellt. Über das Geschehen im Feld konnte er sich über eine Tracking App informieren. So wusste er auch, dass er noch vorne lag, obwohl er zwischenzeitlich wegen einer Reifenpanne die Strecke verlassen musste, um sich einen neuen Mantel zu kaufen.
Nicht nur die Reifenpanne war so eine Situation, die dem 40-Jährigen durchaus zusetzte. „Ich dachte, es müsste eigentlich schneller gehen, doch der Teufel steckt im Detail.“ In diesem Fall auch in Form der Höhenmeter. Aber auch durch nicht unbedingt eingerechnete Widrigkeiten. Wer rechnet schon Mitte Juni noch mit ausgedehnten Schneefeldern? „die waren teilweise nur zu Fuß passierbar“, berichtet Böhringer. Dafür hatte er auch einige Momente, die hochmotivierend waren. An einem Imbiss kam er mit Schweizern in Kontakt, die so begeistert waren, dass sie seine Rechnung schon übernommen hatten, als er bezahlen wollte. Und in der Zentralschweiz kamen tatsächlich auch ein paar Zuschauer an die Strecken, die Böhringer von einem 24-Stunden-Rennen kannten, um ihn anzufeuern.
Ein kurzer Schockmoment entpuppte sich schließlich auch als Unterstützungsaktion. Denn in dieser Gegend wurde er von der Polizei angehalten. „Ich dachte, ich bin vielleicht zu schnell ins Dorf gefahren“, erzählt der Tammer Extrem-Radsportler. Tatsächlich erkannte er dann aber einen der Polizisten. Er war Mitorganisator des 24-Stunden-Rennens, an dem Böhringer teil­genommen hatte, und wollte ihm nur die besten Wünsche mit auf die Strecke geben.
Solche asphaltierten Passagen waren aber nur ein kleiner Teil der Strecke. Zumeist ging es recht einsam über Schotterpisten oder sogar kleine Trampelpfade. Die Strecke war minutiös festgelegt, aber weder ausgeschildert noch abgesperrt. Zur Orientierung dienten Navigationsgeräte mit GPS und Notruffunktion. Diese waren Pflicht, denn mitten in den Alpen ist oft kein Hilferuf über Mobilfunk möglich. Aber Sicherheit geht vor. Das hätte Böhringer auch beinahe die Weiterfahrt gekostet, denn zwischendurch war ein Stecker zum Laden des Navis abgebrochen und er musste sich notdürftig durch verdrillen der Kabel helfen.

Am Ende die totale Erschöpfung

Genau das macht laut Böhringer aber auch den Reiz eines solchen Ausdauerrennens aus. „Du weißt am Start nie, ob du auch ankommst“, so der Tammer. Dabei spielt neben der Technik auch der eigene Körper eine Rolle. Bei Böhringer ging es diesmal gut. „Am letzten Tag hat bei mir noch einmal eine Euphorie eingesetzt. Die hielt bis ungefähr eine Stunde nach Zielankunft an. Danach folgte die totale Erschöpfung. Ich habe nur noch geschlafen, getrunken und gegessen“, berichtet der 40-Jährige. Selbst im anschließenden Familienurlaub in der Schweiz hätte er immer wieder eine Mittagsschläfchen einlegen müssen. Doch Grenzerfahrungen reizen Böhringer. „Ich habe vor zwei, drei Jahren mit kürzeren Distanzen angefangen und es reizt mich, mich immer weiter zu steigern.“ Andere Teilnehmer entwickeln dabei allerdings nicht den Ehrgeiz des Tammers. „Manche fahren von Anfang an in Gruppen, weil es für sie nicht um die Zeit geht. Sie wollen die Strecke genießen.“ So waren die letzten beiden Teilnehmer am Mittwochnachmittag – mehr als elf Tage nach dem Start – noch unterwegs.
Um sich das aufwändige Hobby besser finanzieren zu können, ist Böhringer auf der Suche nach Sponsoren. Weitere Informationen und Kontaktdaten gibt es in seinem Blog.