Bleibt alles anders? Neustarts von Intendanten stehen immer unter besonderer Beobachtung. Egal, ob bei Friedrich Schirmer („Gothland“ 1993), Hasko Weber („Dogville“ 2005) oder Armin Petras („Onkel Wanja“ 2013) – die ersten Premieren verliefen am Stuttgarter Schauspiel stets hoch kontrovers. Viel Applaus, aber auch empörte Zuschauer, die türenknallend den Saal verließen. Buhattacken. Erregte Debatten. Schwarzseher, die das Theater wieder kurz vor dem sicheren Untergang wähnten. Diesmal, 2018, beim Neubeginn von Burkhard C. Kosminski mit „Vögel“ regte sich kein Unmut. „Nur“ Beifall. Seltsam. Alles Konsens oder was?
Zugegeben, beim Applaus war auch ein bisschen Erschöpfung dabei. Denn das Auftaktstück „Vögel“ – eine ausufernde Familiensaga vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts – beanspruchte fast vier Stunden. Und das noch in vier Sprachen – Deutsch, Englisch, Hebräisch und Arabisch. Wajdi Mouawad, ein seit seinem Erfolgsstück „Verbrennungen“ auch hier gefragter frankokanadischer Autor mit libanesischen Wurzeln, fächert die globale Geschichte einer Familie zwischen New York, Berlin und Jerusalem auf. Alles beginnt mit einer jüdisch-arabischen Lovestory zwischen Eitan und Wahida, die an Eitans starrsinnigem Vater und an den heillos verhärteten Fronten scheitert.
Mouawad greift weit aus, verknüpft Holocaust-Vergangenheit und Allgegenwart des Bombenterrors mit familiären Bruchlinien und Traumata. Ab und zu lässt er Nachrichten von Attentaten und Kampfjet-Gedröhn einblenden. Der Autor wahrt Neutralität und siedelt das Ganze eher im liberal-aufgeklärten Milieu an. Höchst fabulierfreudig irrlichtert er zwischen Biologie und Philosophie, Genom-Exkursen und orientalischen Legenden. Gut, manches wirkt weitschweifig und kolportagehaft. Eine Prise gehobener Boulevard ist auch dabei. Und zuweilen knirscht es im abenteuerlich konstruierten Handlungs-Gebälk, wenn ausgerechnet der israelische Hardliner David, Eitans Vater, sich als palästinensisches Findelkind entpuppt. Zu alldem geistert auch noch ein gewisser Al-Wazzan durch die Story, ein mittelalterlicher Gelehrter zwischen zwei Kulturen. Klar, auch „Romeo und Julia“ und „Nathan der Weise“ lassen grüßen. Doch im weiten Feld zwischen Thriller, Familienepos, Zeitstück und Märchen gelingt Mouawad ein schillerndes Well-Made-Play. Das heißt: viel Dialog, heftige Konflikte. Und bei aller Tragik auch lebensweiser Humor.
Unauffällig, fast abstrakt
Natürlich ist dieser Start programmatisch gemeint. Als Visitenkarte. Als Statement. Denn der regieführende Intendant Burkhard C. Kosminski bietet hier klassisches, konventionelles, vom Blatt gespieltes, texttreues Erzähl- und Schauspielertheater. Seine Regie bleibt unauffällig, dezent, verzichtet fast ganz auf Kulissen. Was wir sehen, ist eine große Familienaufstellung, übersetzt per Untertitel auf weißen, mobilen Riesentüchern. Auch wenn sich die Akteure fast zerreißen: Die ruhig kreisende Drehbühne zeigt die Stagnation dahinter. Fast abstrakt wirkt das alles. Nur ein Oud-Spieler am Bühnenrand und leise nahöstliche Sounds aus dem Off schaffen Atmosphäre – aber nie so, dass hier folkloristisch beschönigt wird. Kurzum, Feinde des Regietheaters werden jubeln, doch der Abend, sauber, sensibel und buchstabengetreu inszeniert, weist so eben auch Längen auf.
Stark die Schauspieler. Alle Figuren erleben existenzielle Brüche. Eitan, bei Martin Bruchmann zunächst ein leicht entflammbarer Optimist, verzweifelt an seinen Eltern. Eitans Freundin Wahida, bei Amina Merai anfangs eine quirlig-wissbegierige Studentin, wendet sich später wieder ihren arabischen Wurzeln zu – ein Zugeständis an konservative Identitätstheorien. Vor allem Itay Tiran als Eitans Vater David fesselt in allen Stadien seiner Wandlung – vom wehrhaften Israeli, der sich von feindlichen Arabern umzingelt sieht, bis hin zu einem entwurzelten, seines gewachsenen Ichs beraubten Menschen. Famos auch Silke Bodenbender als Norah, Dov Glickman als beherzter Großvater Etgar und vor allem Evgenia Dodina als scharfzüngige und katastrophengestählte Grande Dame des Clans.
Alles in allem: Es war ein vergleichsweise unspektakulärer, aber vielversprechender Start. Die Akzente lagen wieder mehr auf dem Wort, auf den Schauspielern. Theater eben. Immerhin, im Eckensee vor dem Schauspielhaus gab’s eine kleine, feine Pyro-Show fürs Auge – mit Flammeninseln unter dem Titel „Feuer im See“.
Und demnächst nach Salzburg
Pünktlich zum Start kann der neue Schauspielchef Burkhard C. Kosminski noch eine kleine Sensation vermelden. Bei den Salzburger Festspielen im August 2019 wird er ein neues Stück von Theresia Walser inszenieren: „Die Empörten. Eine finstere Komödie“. Lange her, dass Stuttgart beim weltweit größten Festival zu Gast war: 2000 mit Martin Kusejs „Hamlet“ unter Friedrich Schirmer etwa und zuletzt 2009 mit Sebastian Nüblings „Judith“ unter Hasko Weber. Jetzt also 2019 wieder mit Kosminski. Neben den Stuttgarter Ensemblemitgliedern Silke Bodenbender, Anke Schubert und Sven Prietz gehören auch Caroline Peters und André Jung mit zur Besetzung. op