Missbrauch in der Kirche und in Kinderheimen, ein Sextäterring auf einem Campingplatz, dazu immer neue Enthüllungen über Verfehlungen von Musikern wie Michael Jackson und R. Kelly – seit Wochen bestimmt das Thema Kindesmissbrauch die Schlagzeilen. Was auffällt: Dass Kinder systematisch zu Opfern gemacht werden, zieht sich quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Manche Täter vergehen sich an Kindern aus der Familie oder aus dem Bekanntenkreis. Andere schließen sich einer großen Institution an – wie die Priester in der katholischen Kirche, die Kinder und Jugendliche auch gefügig machten, indem sie sie moralisch unter Druck setzten. In Kinderheimen – in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik – begünstigten strenge Heimstrukturen die Taten. Acht Behauptungen auf dem Prüfstand.
Es ist ein gutes Zeichen, dass immer mehr Fälle bekannt werden. Professor Michael Melter vom Universitätsklinikum Regensburg sieht eine positive Tendenz: Dadurch, dass das Thema mehr in der Öffentlichkeit sei, könnten Täter abgeschreckt werden. Aber er weist auch darauf hin: „Die meisten Taten bleiben unentdeckt.“ Auch das Internet hilft dabei, dass Fälle nicht im Verborgenen bleiben. Die Sozialen Netzwerke erleichtern es Opfern, in die Öffentlichkeit zu treten. #MeToo ist ein Beispiel, wie sich Betroffene gegenseitig Mut machen.
Die Missbrauchsfälle nehmen zu. Es kommt auf den Zeitraum an, den man betrachtet. Folgt man der Polizeilichen Kriminalstatistik, ist die Zahl der Fälle seit 2009 mit jährlich unter 15 000 quasi konstant. Allerdings: Diese Statistik gibt nur Aufschluss über die Zahl der Anzeigen, also der bekanntgewordenen Fälle. Wie groß die Dunkelziffer ist, bleibt unklar. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder.
Die Strafen sind zu lax. Das ist Ansichtssache. Laut Paragraf 176 des Strafgesetzbuches wird der sexuelle Missbrauch von Kindern mit einer Freiheitsstrafe bis zu 10, in besonders schweren Fällen sogar bis zu 15 Jahren geahndet. Häufig gibt es aber Kritik daran, dass der Strafrahmen nicht ausgeschöpft wird und dass es manche Richter selbst im Fall wiederholten sexuellen Missbrauchs bei Bewährungsstrafen belassen.
In der DDR wurde das Thema besonders stark tabuisiert. Stimmt – zumindest ist zu diesem Ergebnis die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gekommen. „Betroffene konnten, wenn überhaupt, erst nach dem Ende der DDR über die erlittene sexuelle Gewalt berichten“, heißt es in dem Bericht. Zwar habe es sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR in allen Schichten gegeben, ähnlich wie in der Bundesrepublik. Er habe aber nicht ins Bild der „heilen sozialistischen Gesellschaft“ gepasst und habe deshalb auch in offiziellen Kriminalitätsstatistiken kaum eine Rolle gespielt. Kindesmissbrauch habe es in Familien gegeben, vor allem aber in Kinderheimen, wie etwa im Jugendwerkhof Torgau für angeblich besonders schwer erziehbare Jugendliche.
Missbrauch findet besonders in bestimmten Milieus statt – etwa in bildungsfernen Schichten und in der Kirche. Die Täter stammen laut dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, aus allen sozialen Milieus. Die männlichen Täter leben hetero- oder homosexuell und unterscheiden sich durch kein äußeres Merkmal von nicht missbrauchenden Männern. Über missbrauchende Frauen wurde in Deutschland bislang wenig geforscht. Grundsätzlich gilt: 25 Prozent des Missbrauchs findet innerhalb der engsten Familie statt. Auch Bildungs-, Sport- und Freizeiteinrichtungen sind Orte, an denen sexueller Missbrauch stattfindet. Und natürlich kirchliche Einrichtungen. Und so beklagt Rörig, dass auch in diesem Jahr Kinder und Jugendliche tausendfach missbraucht würden, „in der Familie, von Pädagogen, Geistlichen oder auch Sporttrainern“. Gefahren gehen auch von den digitalen Medien aus. Sie spielen bei sexuellen Übergriffen unter Gleichaltrigen laut Rörig eine immer größere Rolle.
Die Opfer sind meistens weiblich. Das ist so. Laut Statistik sind die Opfer zu etwa 75 Prozent Mädchen und 25 Prozent Jungen.
Täter sind vor allem Männer. Geht man nach den von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen stimmt das (fast) – nur ein Prozent ist weiblich. Allerdings sind Experten sicher, dass es Täterinnen weit häufiger gibt, als es statistisch erfasst wurde. Sexueller Missbrauch durch Frauen werde seltener entdeckt, weil er Frauen kaum zugetraut werde. Entsprechend ungenau sind die Zahlen: 10 bis 25 Prozent der Delikte, so wird vermutet, werden von Täterinnen verübt. Ein besonders schwerer Fall war der Missbrauch in Staufen, wo die Mutter ihr Kind aktiv missbrauchte und es im Internet anbot.
Man sollte Musik und Filme von Tätern boykottieren. Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Aber die Reaktion des Publikums spricht in beiden Fällen eine eindeutige Sprache. Hatte R. Kelly bis vor 15 Jahren eine Reihe Top-Ten-Hits, gingen die Verkaufszahlen in den Keller, als die Vorwürfe konkreter wurden. Ähnlich erging es dem US-Schauspieler Kevin Spacey. Nach Bekanntwerden des Vorwurfs wurde die Netflix-Serie „House of Cards“ ohne Spacey weitergedreht.
So viele Taten werden angezeigt