Dreimal überschlägt sich sein Auto. Keine fünf Sekunden sind verstrichen. Doch der Unfall setzt im flandrischen Autor Peter Verhelst eine imaginative Kraft frei, die die Grenzen des Raum- Zeit-Kontinuums sprengt. Mannigfaltige, teils surreale Bilder fluten sein Bewusstsein. Er wird in eine fantastische Welt katapultiert, irgendwo zwischen Leben und Tod. Drei Seiten nur nimmt der eigentliche Unfallbericht in Verhelsts neuem Roman „Eine Handvoll Sekunden“ ein. Knappe 300 Seiten hingegen füllt der Autor mit dem, was er während des Unfalls in der sonderbaren Zwischenwelt wahrnimmt und erlebt.
Dort wehren sich Widerstandskämpfer gegen ein repressives Regime, das just in Istanbul an die Macht gekommen ist. Es folgt ein Szenenwechsel: Ein Mann streift durch eine wundersame Naturlandschaft, reibt sich mit Schlamm ein und wähnt sich eins mit der Natur. „Katzenartige Wesen“ verfolgen ihn. Sie drängen ihn in eine Felsspalte. Nur noch eine List verspricht Rettung.
Ein anderer überlebt als einziger einen Flugzeugabsturz, muss sich mit angriffslustigen Pavianen und Säbelzahntigern herumschlagen. Zwischendrin raucht er Zigaretten.
Schließlich wird Verhelst selbst zum Protagonisten. Er ist auf der Suche nach seiner Identität – allerdings nicht alleine: In einem riesigen Zimmer trifft er auf andere, die in der Zwischenwelt festsitzen. Er nähert sich seiner Schicksalsgenossin Amelia an. Eng umschlugen tanzen sie. Da entsinnt er sich jäh des Unfalls. Der Weg zurück in die Wirklichkeit steht bald bevor.

Keine absolute Wahrheit

Die Handlungsstränge sind durch wiederkehrende Personen und Motive auf rätselhafte Weise miteinander verknüpft. Je weiter die Handlung vorantreibt, desto weiter entfernt sie sich vom Weltlichen und der Idee einer absoluten Wahrheit, für die die starre Ideologie des Istanbuler Regimes steht. An ihre Stelle tritt die Vorstellung multipler Wahrheiten, wonach allem seine je eigene Wahrheit innewohnt.
Eine kausale Handlungsabfolge? Fehlanzeige. Denn so chaotisch die Vorgänge in Verhelsts Bewusstsein gewesen sein dürften, so chaotisch ist deren Schilderung – das macht die Authentizität und Faszination des Buches aus. Der Leser erhält einen Einblick in Begebenheiten, die wie ein verrückter, atemberaubender Traum wirken. Lukas Wetzel