Eine Bankfiliale in Essen-Borbeck am 3. Oktober 2016. Im Vorraum bricht ein 83-jähriger Mann zusammen und liegt neben den Bank­automaten. Die Überwachungskamera filmt vier Bankkunden, die um ihn herumgehen oder über ihn hinwegsteigen. Erst der fünfte alarmiert den Arzt. Der Rentner stirbt eine Woche später. Drei der vier Kunden, die das Video zeigt, müssen sich von heute an wegen unterlassener Hilfeleistung vor Gericht verantworten.
Die Empörung in Deutschland war groß. „Wie abgestumpft muss man sein, um hier nicht zu reagieren?“, schimpft jemand auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. „Jeder hat schließlich ein Handy!“ Ein anderer: „Es hätte euer Vater oder Opa sein können.“ Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) sagt, er sei „nachdenklich und betroffen zugleich“, Essens Bischof Franz-Josef Overbeck zeigt sich erschüttert.
In der Anklageschrift werden die entscheidenden Momente festgehalten: Demnach will der Rentner seine Bankgeschäfte an einem Überweisungsautomaten erledigen. Binnen weniger Minuten stürzt er zweimal rückwärts, er kommt dabei mit dem Kopf auf dem Fliesenboden auf. Nach seinem dritten Sturz bleibt er liegen.
Wenige Minuten später betreten nacheinander vier Kunden die Filiale. „Die Angeklagten sollen den auf dem Boden liegenden Mann nicht beachtet und sich nicht um ihn gekümmert haben“, wirft ihnen die Anklagebehörde vor.
Die drei Stürze des Rentners passieren zwischen 17:02 und 17:04 Uhr, teilt das Landgericht Essen mit. Die vier Kunden betreten den Vorraum zwischen 17:10 und 17:16 Uhr. Erst der fünfte Kunde setzt um 17:23 Uhr den Notruf ab.
Weitere 20 Minuten später trifft ein Rettungswagen ein und bringt den Bewusstlosen in eine Klinik. Das Bewusstsein erlangt er nicht wieder, er stirbt eine Woche später.
Ein Gutachten ergibt, dass der 83-jährige Mann auch gestorben wäre, wenn ein Arzt sich hätte früher um ihn kümmern können. Laut Obduktion hatte er eine Schädel-Hirn-Verletzung erlitten, die vom Sturz auf den Hinterkopf stammen könnte.

„Für Obdachlosen gehalten“

Für viele unverständlich bleiben die Reaktionen der Bankkunden. Zwei der Angeklagten sagten nach früheren Angaben der Staatsanwaltschaft aus, sie hätten den zusammengebrochenen Mann für einen Obdachlosen gehalten.
Allerdings wertet die Staatsanwaltschaft das als Schutzbehauptung. Denn der Mann hatte zum Beispiel weder Plastiktüten noch einen Schlafsack dabei. Dagegen spreche auch die Position, in der der Mann auf dem Fliesenboden gelegen hat.
Vor Gericht stehen von heute an ein 55-jähriger Mann aus Oberhausen sowie eine Frau (39) und ein Mann (21) aus Essen. Die Verhandlungsfähigkeit des vierten Angeklagten, eines 55 Jahre alten Mannes aus Essen, wird noch geprüft, das Verfahren gegen ihn wurde abgetrennt.
Sechs Zeugen sind zur Verhandlung vor dem Landgericht geladen. Neben vier Polizisten und dem Mann, der den Notruf wählte, wird auch die Tochter des gestorbenen Rentners erwartet. Nach Einschätzung des Gerichts könnte noch heute das Urteil fallen.

Herzmassage, bis die Sanitäter übernehmen

Bewusstlosen Erste Hilfe leisten, dafür empfehlen Experten den Laien: nur Herzmassage. Ratschläge des Notfallmediziners Prof. Dietrich Andresen (Berlin):
Zuerst prüfen, ob der Verletzte bei Bewusstsein ist. Man fasst ihn an der Schulter, schüttelt ihn, spricht ihn laut und deutlich an.
Reagiert er nicht, ruft man sofort die Nummer 112 an oder bittet jemanden, das zu tun. Am Telefon genau beschreiben, wo sich der Patient befindet.
Dann sofort mit der Herzdruckmassage beginnen: Der Bewusstlose wird auf den Rücken gedreht. Man legt beide Hände übereinander genau zwischen die Brustwarzen, etwas unterhalb des Brustbeins. 100- bis 120-mal pro Minute fest drücken, etwa fünf bis sechs Zentimeter tief in Richtung Wirbelsäule.
Nicht unterbrechen! Wenn einem die Kraft ausgeht, muss jemand anderes weitermachen, ohne dass beim Wechsel eine Pause ist. Am besten kniet der neue Helfer also auf der anderen Seite des Bewusstlosen. Die Erste Hilfe endet erst, wenn der Rettungswagen eingetroffen ist und ein Sanitäter übernimmt. dpa

Unterlassene Hilfe

Wer wegschaut, wenn jemand wegen eines Unfalls oder aus anderen Gründen In Not ist, macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Das ist laut Paragraph 323c des Strafgesetzbuches eine Straftat. Der Strafrahmen reicht von einer Geldstrafe bis zu einem Jahr Gefängnis.
Strafbar macht man sich aber nur, wenn die Hilfe zumutbar gewesen ist. Ein Nichtschwimmer zum Beispiel muss sich nicht in einen Fluss stürzen, um einen Ertrinkenden zu retten. Wer jemandem, der in Not ist, nicht selbst helfen kann, muss wenigstens Hilfe herbeiholen. dpa