Schon längst ist Großbritannien aus der EU ausgetreten, und doch nehmen die Verhandlungen um den Brexit kein Ende. Aktuell beschäftigt beide Seiten das sogenannte Nordirland-Protokoll. Der britische Premierminister Boris Johnson plant, das Protokoll aufzuheben - und somit einen Vertragsbruch mit der Europäischen Union zu begehen. Es könnten weitere Jahre des Streits folgen, die EU-Kommission hat vor einem einseitigen Aufheben des Protokolls gewarnt.
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Nordirland und Irland: Geschichte des Konflikts
Hintergrund zum aktuellen Nordirland-Problem ist ein jahrzehntelanger Konflikt in Nordirland, das zu Großbritannien gehört. Der Konflikt dauerte grob von den 1960er Jahren bis 1998, als das Karfreitagsabkommen unterschrieben und Frieden besiegelt wurde. Im englischen Sprachgebrauch wird diese Periode auch „The Troubles“ (deutsch: Die Sorgen) genannt. Diese Zeit wird als eine Art Bürgerkrieg verstanden, die in unregelmäßigen Abständen wieder aufflammte.
Der Kern des Nordirlandkonflikts lag in der Frage um die Wiedervereinigung Nordirlands mit dem restlichen Irland. Die zwei Lager waren zum einen die mehrheitlich protestantischen Unionists, die für ein Verbleiben Nordirlands als Teil Großbritanniens waren, und zum anderen die mehrheitlich katholischen Nationalisten, die für eine Wiedervereinigung Nordirlands mit Irland waren. Diese wurden von der irischen Regierung zum Teil unterstützt, was zu Spannungen zwischen Irland und Großbritannien führte. In dem Konflikt starben rund 3.500 Personen, davon waren ein Großteil Zivilisten.
Das Karfreitagsabkommen
Der Nordirlandkonflikt fand mit dem Karfreitagsabkommen 1998 ein Ende. Das Abkommen wurde am 10. April 1998 von Vertretern der britischen und irischen Regierung sowie von Vertretern der unterschiedlichen nordirischen Parteien unterzeichnet. In dem Karfreitagsabkommen wurde anerkannt, dass zum Zeitpunkt des Unterschreibens die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung Teil von Großbritannien bleiben wollte. Es wurde aber auch anerkannt, dass ein wichtiger Teil der Bevölkerung eine Vereinigung mit Irland anstrebte. Sollte es sich jemals abzeichnen, dass sich dieses Meinungs- und Stimmungsbild in Nordirland ändert, würde die britische Regierung ein Referendum über die Wiedervereinigung zulassen und das Ergebnis respektieren. Zudem wurde anerkannt, dass alle Bürger Nordirlands das Recht haben, sich sowohl als britische oder irische Staatsbürger zu identifizieren - und auch beide Staatsbürgerschaften zu besitzen. Zwischen Irland und Nordirland soll es keine feste Grenze geben, damit die Bevölkerungen sich frei zwischen den Regionen bewegen können.
Das politische System und die zugelassenen Parteien in Nordirland wurden ebenfalls in dem Karfreitagsabkommen festgelegt.
Brexit und Nordirland: Das Problem mit der Grenze
Bis Großbritannien entschied, die EU zu verlassen, war das Thema Nordirland damit vom Tisch. Doch mit dem Brexit trat ein ganz wichtiges Problem in den Vordergrund: Wenn Großbritannien - und mit ihr Nordirland - die EU verlässt, wie kann verhindert werden, dass zwischen Irland und Nordirland keine feste Grenze entsteht? Die 500 Kilometer lange Grenze bildet seit dem Brexit eine Außengrenze der EU. An dieser müsste es also Grenzkontrollen und Warenkontrollen geben. Warenkontrollen wollen dort alle Seiten unbedingt vermeiden, weil sonst mit einem Wiederaufflammen des gewaltsamen Konflikts zwischen den Befürwortern und Gegnern einer irischen Vereinigung gerechnet wird. Die Frage, wie trotz einer offenen Grenze auf der irischen Insel der Europäische Binnenmarkt vor der Einfuhr von Produkten geschützt werden kann, die nicht den EU-Standards entsprechen oder für die Zölle anfielen, wurde zur härtesten Nuss der Brexit-Gespräche.
Nordirland-Protokoll: Die Lösung im Brexit-Streit
Das Ringen um das Nordirland-Problem dauerte Monate und Jahre. Ein Grund für die Probleme waren nordirische Politiker, die es ablehnten, durch eine Grenze im irischen Meer von Großbritannien abgeschottet zu sein. Doch eine andere Lösung war nicht denkbar, ohne das Karfreitagsabkommen zu gefährden.
Das Nordirland-Protokoll ist Teil des Brexit-Abkommens und sieht vor, dass die Provinz weiter den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Europäischen Zollunion folgt. Damit können Kontrollen an der inneririschen Grenze verhindert werden. Stattdessen muss nun aber kontrolliert werden, wenn Produkte von England, Schottland oder Wales nach Nordirland gebracht werden. Es gibt also eine Grenze im Meer zwischen der irischen Insel und dem restlichen Königreich. Premierminister Boris Johnson hatte das Abkommen Ende 2019 geschlossen und als großen Durchbruch gefeiert, nachdem seine Vorgängerin Theresa May mit ihrem Backstop-Plan im Parlament in London mehrfach gescheitert war. Der Backstop hatte vorgesehen, dass das gesamte Vereinigte Königreich bis auf weiteres in Binnenmarkt und Zollunion bleibt. Mit seinem „ofenfertigen Deal“, wie er ihn nannte, bestritt Johnson den Wahlkampf im selben Jahr und fuhr eine große Mehrheit ein.
Nordirland-Protokoll jetzt: Warum will Johnson den Deal aufkündigen?
Johnson ließ bereits kurz nach dem Abschluss des Brexit-Vertrags erkennen, dass er sich nicht an die Abmachung halten will. So bestritt er mehrfach, dass darin Kontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland überhaupt vorgesehen sind. Nordirische Politiker berichteten auch, Johnson habe ihnen zugesichert, die Abmachung zu brechen. Seitdem klagt London immer wieder, Brüssel lege die Vereinbarung zu strikt aus. Im Herbst 2020 kündigte die britische Regierung erstmals an, das Protokoll durch interne Gesetzgebung zu untergraben. Das wurde jedoch später nach heftigem Protest aus Brüssel, Dublin und Washington zurückgenommen. London setzte jedoch einige Teile des Abkommens aus und leitet teilweise Daten über Handelsströme nicht wie versprochen an die EU-Behörden weiter.
Vor mehr als einem halben Jahr hatte die EU-Kommission im Einklang mit dem Schutz des Binnenmarktes bereits Lockerungen für Warenkontrollen vorgeschlagen. Die Prüfungen von Qualitätsstandards bei Lebensmitteln und anderen Waren sollten dadurch ebenso deutlich verringert werden wie Zollformalitäten. Die Vorschläge gingen London aber nicht weit genug. Auch eine Einigung auf weitere Ausnahmen für den Transport von Medikamenten konnte London bislang nicht besänftigen.
EU will wegen Nordirland-Problem gegen UK klagen
Im Streit um Zollvorschriften für die britische Provinz Nordirland hat die EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien eingeleitet. Das Vorgehen Londons verstoße gegen internationales Recht und bedrohe den Frieden in Nordirland, erklärte Kommissions-Vizepräsident Maros Sefcovic. Die britische Regierung hatte den Streit massiv verschärft und offiziell vorgeschlagen, einseitig erhebliche Änderungen am Nordirland-Protokoll vorzunehmen.
Die britische Regierung habe "gegen bedeutende Teile des Nordirland-Protokolls" verstoßen, erklärte Sefcovic. Dies habe der EU-Kommission "keine andere Wahl" als die nun ergriffenen rechtlichen Schritte gelassen. Dem Kommissions-Vize zufolge wurden zwei neue Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und zudem ein früheres Verfahren wieder aufgenommen. Die Verfahren könnten für London vor dem Europäischen Gerichtshof enden.
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