Sie schimmerten feucht. Lisa Schneider musste noch einmal genauer hinsehen, doch tatsächlich: Die Augen ihrer Professorin schimmerten feucht. Freudentränen. Lobeshymnen für die Studentin aus Ulm. Das gemeinsame Durchblättern der Bachelorarbeit gipfelte in einer Umarmung. „Es war ein unvergesslicher Moment. Danach hatte ich Gewissheit, dass mir etwas Besonderes gelungen ist“, sagt Schneider rückblickend. „Gelbe Seele“ – diesen Titel trägt Schneiders Abschlussprojekt, das nicht nur eine Lehrkraft der Stuttgarter Hochschule für Kommunikation und Gestaltung zu Tränen rührte, sondern gestern auch mit dem Deutschen Fotobuchpreis ausgezeichnet wurde: Gold in der Kategorie „Studentische Arbeiten“.
Lisa Schneiders Buch "Gelbe Seele" zeigt die Vielfalt des Berliner Untergrunds.
Lisa Schneiders Buch „Gelbe Seele“ zeigt die Vielfalt des Berliner Untergrunds.
© Foto: privat

Die Welt der Berliner U-Bahn auf 416 Seiten

In ihrem 416-seitigen Werk beleuchtet Schneider den Alltag in der Berliner U-Bahn. Sie zeigt die Menschen: Hipster, Paradiesvögel. Sie zeigt die Orte: Haltestellen, Schächte. Kurzum: Sie zeigt die Vielfalt, die im Untergrund der Hauptstadt zuhause ist. Die Idee für das Buch kam der 24-Jährigen während ihres Praxissemesters, das sie in Berlin absolvierte. Das bunte Treiben in der U-Bahn faszinierte sie auf Anhieb: „Ich fragte mich beim Fahren oft, welche Geschichten hinter den Leuten stecken.“ Herzstück des Buches sind daher sechs Protagonisten, die Schneider nach dem Fotografieren auch interviewt hat. Einer davon ist Patrick Jänke. In den gelben Wagons der Berliner U-Bahn verkauft der 37-Jährige die Obdachlosen-Zeitung „Karuna Kompass“. Sein Schicksal habe Schneider besonders bewegt, wie sie betont: „Ich habe nach unserem Gespräch lange über Patrick nachgedacht.“

Gelbe Seele: Das Schicksal des Kleingeldhelden

Jänke, den Schneider in ihrem Buch „Kleingeldheld“ nennt, ist Schüler eines Gymnasiums, als er das Kiffen anfängt. Er wird psychotisch, kommt ins Krankenhaus. Das Abitur schafft er nicht. Ohne Abschluss landet Jänke schließlich auf der Straße. „Er hat nicht aufgegeben, es ist beeindruckend“, sagt Schneider. Obwohl sich Jänke im Verkäuferalltag Sprüche wie „Ich hau dir gleich auf die Fresse!“ oder „Geh doch arbeiten!“ anhören muss, macht er weiter. Inzwischen kann er sich eine kleine Wohnung leisten. Es geht aufwärts. „Er ist stolz darauf und das kann er auch sein“, sagt Schneider. Es sind Geschichten wie diese, die dem Buch seine Substanz geben. Weitere Figuren in „Gelbe Seele“ sind unter anderem ein Graffiti-Sprayer, ein Straßenmusiker und ein U-Bahn-Fahrer. Sie kennen sich nicht, wissen nichts übereinander, dennoch kreuzen sich ihre Wege in der U-Bahn. „Diesen Gedanken finde ich spannend“, sagt Schneider.
In der Berliner U-Bahn tummeln sich Anhänger verschiedener Subkulturen.
In der Berliner U-Bahn tummeln sich Anhänger verschiedener Subkulturen.
© Foto: privat

Lisa Schneider: Designen statt kellnern

Für die in Ulm aufgewachsene Kommunikationsdesignerin ist das Werk noch mehr als eine erfolgreiche Bachelorarbeit, die ihr die Note 1 und den Fotobuchpreis eingebracht hat. Es ist ihr Weg zu einer neuen Leidenschaft. Vor Beginn ihres Studiums in Stuttgart dachte die junge Frau lange über ihre Zukunft nach. „Eigentlich wollte ich hauptberuflich in der Gastronomie arbeiten, da ich viel Spaß am Kellnern hatte“, berichtet Schneider. Allerdings seien ihre Eltern dagegen gewesen. Daher schrieb sie sich schließlich doch an einer Hochschule ein. „Designen, fotografieren – das klang schon ziemlich interessant“, sagt sie, „ich hatte ja nichts zu verlieren.“ Lange setzte Schneider allerdings andere Prioritäten: Ihre Freizeit. Ihre Freunde. Ihren Job in einer Bar.
Auch einen Graffiti-Sprayer hat Lisa Schneider für ihr Buch "Gelbe Seele" interviewt.
Auch einen Graffiti-Sprayer hat Lisa Schneider für ihr Buch „Gelbe Seele“ interviewt.
© Foto: privat

Lisa Schneider: Verliebt in Berlin

Doch als sie nach Berlin kam und dort die Vision für ihr Buch erarbeitete, änderte sich ihre Einstellung schlagartig. „Die Stadt strotzt vor Kreativität. Dort habe ich gesehen, was in meiner Branche alles möglich ist“, sagt Schneider. Das Angebot, eine Bar in Stuttgart zu übernehmen, schlug sie wenig später aus. „In Berlin ist mir klargeworden: Ich will designen, fotografieren, schreiben – kreativ arbeiten.“

Gelbe Seele: Buch soll bald in den Handel kommen

Derzeit führt Schneider Gespräche mit Verlagen, die ihr Buch herausbringen möchten. Eine Entscheidung gebe es noch nicht, sie wolle sich allerdings bald festlegen. „Der Fotobuchpreis kommt mir bei den Verhandlungen natürlich zugute“, sagt Schneider, die vor kurzem nach Berlin gezogen ist. In die Stadt mit der U-Bahn, der gelben Seele, die ihr eine neue Leidenschaft geschenkt hat. Hier möchte sie die nächsten Jahre bleiben und neue Projekte angehen.
Dieser Artikel ist in Kooperation mit cityStories UIm entstanden.