Sie wollen in der Stadt wohnen, finden aber keine Wohnung? Dann bauen Sie doch einfach selber eine.“ Was sich auf der Stuttgarter Homepage kinderleicht anhört, ist es freilich nicht. Denn Bauplätze in Stuttgart sind rar und dementsprechend teuer. Eine Alternative sind Baugemeinschaften, die in und um Stuttgart derzeit einen Boom erleben. Privatleute tun sich dabei mit Vereinen, sozialen Trägern und anderen Interessenten zusammen und setzen ihre Ideen ohne professionellen Bauträger um.
Die Stadt Stuttgart fördert diese Formen des gemeinschaftlichen Planes, Bauen und Wohnens intensiv. Seit 2013 vergibt sie nach einem Gemeinderatsbeschluss Grundstücke zum Festpreis. So und durch den Wegfall dessen, was der Bauträger sonst berechnet, ließen sich Projekte um die 20 Prozent günstiger umsetzen, erklärt der Architekt Jan Endemann. Den Zuschlag erhält die Gruppe, die die beste Projektplanung vorlegt. Generell gilt: Soziale Angebote werden begrüßt und mancherorts auch mit Quoten verlangt.
Bauwillige werden bei der Suche nach ihresgleichen von der Stadt mit einer Online-Kontaktbörse unterstützt, außerdem gibt es einen Newsletter und eine eigene Kontaktstelle Baugemeinschaften im Rathaus. Das Engagement kommt nicht von ungefähr. Baugemeinschaften bauten sozial verantwortlich, schafften urbane und vielfältige Wohnangebote und strahlten in die Nachbarschaft aus, heißt es aus dem Stadtplanungsamt. „Sie bringen den Bürger wieder als handelnden und gestaltenden Akteur in die Stadt ein. Gleichzeitig bieten sie die Chance, die Stadt aktiv mit den Bürgern zu gestalten. Somit sind Baugemeinschaftsprojekte auch praktizierte Bürgerbeteiligung“, sagt Rathaus-Sprecherin Ann-Katrin Gehrung.
Seit dem Jahr 2013 sind drei Großprojekte angestoßen worden. Auf dem Olgäle-Areal ist ein Baufeld für sieben Gruppen reserviert, im Stadtteil Möhringen sollen 2018 neun Reihenhäuser und ein dreigeschossiger Kopfbau entstehen. Das Initialprojekt, zwei integrative Mehrgenerationen-Häuser im Stadtteil Heumaden, ist fast fertig. Familien und Einzelpersonen kooperieren mit dem Bau- und Heimstättenverein und dem Behindertenzentrum BHZ, unterstützt vom Verein Wabe für generationenübergreifendes Wohnen.
Eigentums-, Miet- und förderungsfähige Wohnungen sind neben Gemeinschaftsräumen zu finden. Auch Kulturevents wünschen sich die Bauherren des Sechs-Millionen-Euro-Komplexes. Ingrid Höll (34), die mit Mann und Kindern Ende September einziehen wird, freut sich aufs Miteinander. „Wir kommen ursprünglich aus Bayern und haben hier nicht eine solche Infrastruktur. Für uns war das ein schöner Gedanke, dass man da sein Rudel, seine Großfamilie finden kann.“
Neu ist das Konzept in Stuttgart nicht. Einer, der bereits 1994 als Teil einer Baugemeinschaft in die Umnutzung der Schnapsfabrik in der Weißenburgstraße im Heusteigviertel investierte, ist Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). „Ich halte das für absolut zukunftsfähige Konzepte. Das ist eine wunderbare Antwort auf eine Gesellschaft, die zur Anonymisierung und Vereinsamung tendiert“, sagte er jüngst. Auch die Umnutzung der Nudelfabrik in Rohracker, von Gebäuden in der Breitscheidstraße oder der Glockenstraße in Bad Cannstatt geht auf kleine Initiativen zurück.
Architekten haben den Boom erkannt. Unter dem Namen „Baugemeinschaften Stuttgart“ haben vier eigenständige Stuttgarter Büros eine Plattform gegründet – denn ganz ohne Fachleute, die Ideen in eine Form gießen, geht’s nicht. Die Plattform zeichnet für die Baugemeinschaft in Möhringen verantwortlich, in Böblingen und Ludwigsburg wurden Projekte umgesetzt, für eines in Kirchheim/Teck im Kreis Esslingen will man sich bewerben. „Das Interesse nimmt zu“, sagt Jan Endemann. Je größer, urbaner und akademischer geprägt eine Kommune sei, desto aktiver seien Baugemeinschaften. Vorreiter in der Region ist Tübingen.
Was Endeman allerdings betont: „Das löst nicht die Wohnungsproblematik, die wir haben.“ In erster Linie bauten die Teilnehmer – Typ: gebildet, finanziell sicher aufgestellt und sehr anspruchsvoll bei der Mitbestimmung – für sich selbst.

Infokasten

Neue Ausschreibung im Herbst

Die nächsten Stuttgarter Grundstücke für Baugemeinschaften gehen im Herbst ins Rennen. Dann startet die Ausschreibung von Bauplätzen am Wiener Platz in Feuerbach. Auf dem Ex-Schoch-Firmenareal schwebt der Stadt ein „urbanes Quartier mit Modellcharakter“ vor. Viele unterschiedliche Projekte, unter anderem eine Kita, sind geplant, 40 Wohnungen können Baugruppen dort realisieren. Diverse andere Standorte sind ebenfalls im Gespräch: im Neckarpark, auf dem Bürgerhospital-Areal, im Quartier an der Roten Wand auf dem Killesberg und perspektivisch im Rosensteinviertel im Norden. car