Um 12.48 Uhr des 24. Januars 2020 geht ein Notruf bei der Polizei ein. Ein Polizeibeamter in Waiblingen nimmt den Anruf entgegen. Am anderen Ende der Leitung spricht Adrian S. „Ich möchte mich ergeben. Ich habe gerade blutrünstige Monster erschossen“, sagt er. Blutrünstige Monster. Damit gemeint sind sechs Menschen aus Adrians engstem Familienkreis: Seine Mutter, sein Vater, seine Halbschwester und sein Halbbruder, seine Tante und sein Onkel. Sie alle trafen sich an diesem Freitag im Gasthaus „Deutscher Kaiser“ in Rot am See, das von Adrians Vater betrieben wurde, um zusammen zu einer Beerdigung nach Sachsen zu fahren.
Der Sechsfachmord von Rot am See war keine spontane Tat. Der damals 26-Jährige hatte von langer Hand geplant, seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester umzubringen. Er kaufte sich eine Pistole in Nürnberg – ganz legal, denn Adrian besaß einen Waffenschein, er war Mitglied in einem Schützenverein. Am Tattag selbst hält sich Adrian in seinem Zimmer auf, als die Gäste im Lokal in Rot am See eintreffen. Gegen zwölf Uhr beginnt das Grauen: Er schießt zuerst auf den Vater, dann auf die Mutter, die noch versucht zu flüchten. Er verfolgt sie, auf seinem Weg begegnet ihm sein Bruder, auf den er ebenfalls schießt. Auch auf die Schwiegereltern seiner Schwester richtet er seine Pistole, beide werden erheblich verletzt. Hinter dem Haus entdeckt er seinen verletzten Bruder wieder, um den sich seine Schwester gerade kümmert. Auch sie wird niedergeschossen. Im selben Moment kommen sein Onkel und seine Tante in den Garten – wieder fallen Schüsse. Er kehrt zurück ins Haus und findet seine verletzte Mutter in der Küche vor und richtet sie schließlich mit einem Kopfschuss hin. Dann wählt er den Notruf.

Erzählen ganz ohne Zeitdruck

An den Sechsfachmord von Rot am See werden sich wohl die meisten Menschen in der Region noch erinnern, zählt er doch zu den schwerwiegendsten und auch aktuellsten Verbrechen in Hohenlohe. Einer, der den Fall von Anfang an begleitet hat – von der ersten Ad-hoc-Meldung der Polizei am Freitagmittag jenes besagten 24. Januars bis zur Verurteilung von Adrian S. am
9. Juli 2020 – ist Erwin Zoll. Er war 31 Jahre lang Reporter beim Hohenloher Tagblatt und übernahm in dieser Funktion auch die Berichterstattung über den Fall in Rot am See. Seine Recherchen und die Hintergründe der Tat hat er im True-Crime-Podcast der Südwest Presse, „Akte Südwest“, nacherzählt.
„Der Fall hat mich auch persönlich bewegt, war er doch wirklich brutal. Der Podcast und die erneute Beschäftigung mit dem Fall haben mir die Möglichkeit gegeben, mich nochmal neu damit zu befassen und auch ein Stück weit damit abzuschließen“, erzählt er. In einem Podcast könne man Sachverhalte mit aller Ruhe erläutern und auch den ein oder anderen Fakt mehr erzählen, der es nicht in die schriftliche Berichterstattung geschafft hat. „Man muss wissen, dass gerade Gerichtsberichterstattung über einen solchen Fall wie in Rot am See brutal aktuell sein muss. Ein Verhandlungstag dauert gut und gerne bis 17 oder 18 Uhr. Anschließend muss man in die Redaktion fahren und sofort die Geschehnisse zu Papier bringen, schließlich kommt der Artikel auch in vielen Partnerzeitungen. Abgabe ist da um 21 Uhr“, sagt Erwin. Da bliebe nicht viel Zeit, um jedes Detail zu erwähnen.
„Beim Sechsfachmord wurde mir besonders die Schicksalhaftigkeit eines Moments deutlich – das habe ich dann auch versucht, im Podcast zu verdeutlichen.“ Damit meint er die Situation im Gasthaus, als sich die Familie bereits eingefunden hatte und bereit war, nach Sachsen loszufahren. Adrian S. versteckte sich in seinem Zimmer. „Da sagte die Mutter zu ihrem Ex-Mann, dem Vater von Adrian S., dass er mit dieser Jacke nicht gehen könne. Also sind die beiden nach oben gegangen, um eine andere Jacke zu holen.“ Adrian fühlte sich in diesem Moment ertappt und eröffnete das Feuer. „Man stelle sich mal vor, sie wären einfach losgefahren und hätten die Jacke nicht getauscht. Vielleicht wäre dann gar nichts passiert.“
Dass ein so grausames Verbrechen die Menschen interessiert und sie sich in ihrer Freizeit damit beschäftigen, kann der Journalist durchaus nachvollziehen. „Verbrechen zogen die Leute schon immer in ihren Bann. Ich denke da an Fernsehsendungen wie Aktenzeichen XY oder die Bücher von Ferdinand von Schirach. True Crime ist nicht neu, es gibt heute nur viel mehr Formate und Medien, die das Thema aufgreifen.“ Zudem bieten sich moderne Formate wie Podcasts oder Serien an, abgeschlossene Fälle zu betrachten. „Man kann die Verbrechen komplett aufarbeiten, von der Tat bis zur Verurteilung.“
Neben der reinen Kriminalberichterstattung hat es Erwin Zoll in seiner Laufbahn vor allem auch die Gerichtsberichterstattung angetan. „Das habe ich immer sehr gerne gemacht. Die Denkweise der Juristen liegt mir. Ich mag es, die Fälle in ihre Einzelteile zu zerlegen, einzelne Aspekte zu untersuchen und später wieder zu einem großen Ganzen zusammenzufügen.“ Erzählungen aus Gerichten seien auch für Konsumenten von True Crime besonders interessant: „Nirgends kann man so tief in ein fremdes Leben eintauchen und in Abgründe blicken wie vor Gericht“, ist sich der pensionierte Reporter sicher.

Den Fall gemeinsam lösen

Das kann auch Jana Dombrowski, Medienpsychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hohenheim, bestätigen. „True Crime zeigt uns nicht die schöne heile Welt und das ist für uns Menschen erstmal sehr spannend.“ Wer einen Podcast hört oder eine Serie schaut, hat das Gefühl, den Fall gemeinsam mit den Ermittlern beziehungsweise Erzählern zu lösen – „und das gibt uns ein gutes Gefühl“, sagt sie. Die aktuelle Fülle an True-Crime-Angeboten führt sie ähnlich wie Erwin Zoll auf neue Formate zurück. „Social Media spielt dabei auch eine Rolle. So erschien kürzlich eine Serie über Serienmörder Jeffrey Dahmer auf Netflix. Der Täter rückte daraufhin auf der Plattform TikTok in den Fokus. Der Hype sorgte wiederum dafür, dass die Serie und eine dazugehörige Dokumentation in den Netflix-Charts landeten.“ Häufig werde auch in den Online-Netzwerken über Fälle diskutiert – „True Crime ist somit auch zu einem sozialen Erlebnis geworden.“
Jana Dombrowski hat sich auch mit den Rezipienten von True Crime beschäftigt. Ein interessantes Phänomen dabei ist, dass Frauen sich mehr für das Genre interessieren als Männer. „Einer der Hauptgründe dafür ist der Informationsgehalt dieser Gattung. Man lernt beim Zuhören oder Zuschauen den Tathergang kennen und blickt in die Psyche der Täter. Auch Forensik und das Geschehen vor Gericht kommen zur Sprache. Frauen haben ein höheres Bedürfnis, sich über diese Sachen zu informieren, um diese Informationen im Ernstfall für sich nutzen zu können“, sagt die Expertin. Hinzu komme eine höhere Empathiebereitschaft bei Frauen. Sie können sich besser in kontroverse Figuren hineinversetzen.
Doch was macht das Genre True Crime mit seinen Konsumenten? „Dazu muss man ganz klar sagen: Nur weil jemand viele Kriminalgeschichten hört, sieht oder liest, wird er selbst nicht zum Mörder. Der Konsum, egal wie hoch, hat keine Auswirkung darauf.“ Es verhalte sich ähnlich wie bei Videospielen: Auch da wurde wissenschaftlich bereits bewiesen, dass Ego-Shooter die Spieler nicht gewalttätiger oder aggressiver werden lässt. „Es kann jedoch sein, dass bei True-Crime-Rezipienten der Eindruck entstehen kann, es finden mehr Verbrechen statt. Die Studienlage zu diesem Phänomen ist jedoch gemixt“, erläutert die Medienpsychologin.

Hilfreich für die Polizei

Während sich die meisten nur in ihrer Freizeit mit Mord und Totschlag beschäftigen, steht True Crime für Benjamin Kurz, Kriminalhauptkommissar beim Kriminalkommissariat Schwäbisch Hall, auf der Tagesordnung. Auch er kann die Faszination an den realen Verbrechen nachvollziehen. „Natürlich sind die Menschen an den Hintergründen einer Tat und an dem ,Warum‘ interessiert. Die Formate sind auch sehr spannend gestaltet. Jeder kann sich sein eigenes Bild machen.“ Der Kommissar ist selbst auch ein True-Crime-Fan, hört regelmäßig Podcasts und schaut Serien und Filme.
Für die Polizei als Institution können die neuen True-Crime-Formate durchaus hilfreich sein, findet Benjamin. „Sie vermitteln auch viel Wissen, beispielsweise über neue Betrugsmaschen. Auch das Thema Einbruchsschutz ist indirekt ein Thema. Das kann natürlich präventiv wirken und vor Verbrechen schützen“, sagt er. Dass sich aufgrund des aktuellen Trends mehr Menschen für die Polizeiarbeit interessieren oder gar mehr über sie wissen, will der 28-Jährige nicht beurteilen. „Mir ist aber schon aufgefallen, dass sich durch das neue Genre durchaus polizeiliche Fachbegriffe in die Alltagssprache eingeschlichen haben. Ich habe zum Beispiel schon gehört, wie jemand in einem Gespräch die Abkürzung ,Bepo‘ verwendet hat, die eigentlich nur von Polizisten benutzt wird und die Bereitschaftspolizei bezeichnet.“
Der Arbeitsalltag des Kommissars besteht in der Regel aus Schreibarbeit, Vernehmungen und Durchsuchungen. Anders als es in fiktiven Serien und Filmen dargestellt wird, löst er Fälle auch nicht innerhalb weniger Tage. Zudem gehen die wenigsten Verbrechen, in denen Benjamin ermittelt, auf Mord oder Totschlag zurück – „das passiert bei uns glücklicherweise nur sehr selten“. Erpressungen, Cybercrime und Jugendkriminalität machen dagegen den Großteil seiner Arbeit aus – „True Crime ist eben nicht immer so spektakulär wie im Podcast“, unterstreicht er.
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Kriminalität in der Region

Eine beruhigende Nachricht ist aus der Kriminalitätsstatistik 2021 herauszulesen: Im ganzen Land nahm die Anzahl an Verbrechen ab. Im Landkreis Schwäbisch Hall waren es vergangenes Jahr 5882 Straftaten, darunter hauptsächlich Diebstähle, Vermögens- und Fälschungsdelikte sowie Sachbeschädigungen.
Im Hohenlohekreis wurden 3614 Verbrechen erfasst, im Main-Tauber-Kreis waren es 4586. Es wurde deutlich weniger Straßenkriminalität registriert, stattdessen sind Straftaten im Bereich der Partnergewalt sowie Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz im Vergleich zum Vorjahr angestiegen.